Das Rote Kreuz - Geschichte einer humanitaeren Weltbewegung
Gesellschaften stehen in einem engeren Verhältnis zu ihrer Regierung, als es wünschenswert wäre.» Konkreter Gegenstand der Beratungen war die Lage in Deutschland – und insoweit war die Bestandsaufnahme von Max Huber wohl eher noch wohlwollend-beschönigend. In der Tat kann man sich kaum ein deutlicheres Gegensatzpaar vorstellen als dasjenige zwischen einer der Humanität und internationalen Solidarität verpflichteten unabhängigen, dezentral und pluralistisch organisierten Weltorganisation einerseits und einem durch Rassismus, Intoleranz, Menschenverachtung und maßlos übersteigerten Nationalismus geprägten straff organisierten «Führerstaat» andererseits. Das nationalsozialistische Gewaltregime, so wie es sich in Deutschland seit dem 30. Januar 1933 mit überraschender Geschwindigkeit umfassend durchzusetzen vermochte, musste die Rotkreuzbewegung damit zwangsläufig vor bislang unbekannte Herausforderungen stellen – auf nationaler Ebene ebenso wie auf internationaler. Der Schock saß tief über die bereits sehr rasch in Genf registrierten ungeheuerlichen Vorgänge in einem Staat im Herzen Europas, in dem 70 Jahre zuvor die ersten nationalen Rotkreuzgesellschaften überhaupt gegründet worden waren. Deutschland zählte damit zweifellos zu den Mutterländern der Bewegung insgesamt. Mit 1,5 Millionen Mitgliedern, die in 7943 Rotkreuzvereinen organisiert waren und über eine vergleichsweise hervorragende Ausstattung und Ausbildung verfügten, war das Deutsche Rote Kreuz Anfang1933 auch eines ihrer größten und damit wichtigsten nationalen Glieder. Die erste Reaktion in Genf war Sprachlosigkeit. Als das Schicksal der politischen Gefangenen in Deutschland bereits am 18. Mai 1933 erstmals auf der Tagesordnung des Genfer Komitees stand, dekretierte dessen Präsident kurz und knapp: «Das Rote Kreuz ist keine Institution zur Abgabe von Erklärungen, sondern zur Hilfe für die Opfer.» Auch hinsichtlich der historischen Aufarbeitung der Rolle der Rotkreuzorganisationen in dieser Zeit, des IKRK ebenso wie des DRK, sollte nach 1945 für viele Jahre Sprachlosigkeit herrschen. Vereinzelte Stimmen, die schon früh zur Verantwortungsübernahme mahnten, blieben weitgehend ungehört. Ohnmacht und Versagen gegenüber dem NS-Terror wurden beschönigt und gerechtfertigt, Verstrickungen in die Gewaltverbrechen geleugnet oder verdrängt. All dies untrügliche Zeichen dafür, dass das Bild der Rotkreuzbewegung in der Zeit von 1933–1945 in der Tat durch erhebliche dunkle Flecken getrübt ist.
DRK und NS-Staat. Angesichts der radikalen Gleichschaltungspolitik war die Hoffnung darauf, dass das DRK im NS-Staat auf Dauer eine wahrhaft unabhängige, allein den humanitären Idealen sowie den Prinzipien politischer, konfessioneller und rassischer Neutralität verpflichtete Position würde behaupten können, wohl in der Tat nur eine realitätsfremde Illusion. Zwar entging die nationale Rotkreuzgesellschaft in Deutschland – anders als praktisch alle anderen Massenorganisationen – 1933/34 dem Schicksal der Auflösung oder Eingliederung in die Organisationsstrukturen der NSDAP. Der Preis, den das DRK für seine bis zum Kriegsende 1945 bewahrte formale Unabhängigkeit zu zahlen hatte, war indes hoch. Das für die Einbettung der Rotkreuzbewegung in den NS-Staat charakteristische komplexe Wechselspiel zwischen Anpassungsdruck, vorauseilendem Gehorsam, Opportunismus, wohl nur ein ganz klein wenig hinhaltendem Widerstand und verbreitet echter Begeisterung für die «nationalsozialistische Zeitenwende» ist erst jüngst gründlich aufgearbeitet worden, insbesondere von Dieter Riesenberger (2002: Das Deutsche Rote Kreuz. Eine Geschichte 1864–1990) sowieBrigitt Morgenbrod und Stephanie Merkenich (2008: Das Deutsche Rote Kreuz unter der NS-Diktatur 1933–1945). Der Führung des DRK und fast aller seiner Untergliederungen scheint es in der Tat nicht wirklich schwergefallen zu sein, sich «den ideologischen Vorgaben des Regimes anzupassen und seine traditionelle Loyalität zu ‹Volk und Vaterland› auf die nationalsozialistische Bewegung und ihren Führer zu übertragen» (Morgenbrod/Merkenich, 33). Die Motive mögen unterschiedlich gewesen sein – Anbiederung zwecks Erlangung einer Bestandsgarantie durch die neuen Machthaber, echte Überzeugung oder auch eine Mischung aus beidem –, das Ergebnis war letztlich immer dasselbe. Von Anfang an stellte sich das Deutsche Rote Kreuz «mit Selbstverständlichkeit dem Führer
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