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Das Rote Kreuz - Geschichte einer humanitaeren Weltbewegung

Das Rote Kreuz - Geschichte einer humanitaeren Weltbewegung

Titel: Das Rote Kreuz - Geschichte einer humanitaeren Weltbewegung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel-Erasmus Khan
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zahlreichen jüdischen und nichtjüdischen Opfern ungeachtet ihrer präzisen rechtlichen Qualifikation und unter Hinnahme erheblicher eigener Gefährdung Hilfe zu leisten. Hier war der Geist von Solferino («Tutti fratelli») in seiner ganz ursprünglich humanitären Dimension dann vereinzelt doch immer noch lebendig.
    Das Verhältnis Rotes Kreuz und Nationalsozialismus hat schließlich einen unerfreulichen Epilog: Am 1. Juni 1950 stellte ein gewisser Ricardo Klement einen Antrag (Nr. 100.940) auf Ausstellung eines IKRK-Reisedokumentes. Hiermit leistete das Komitee seit Februar 1945 in ganz Europa zehntausenden entwurzelter Menschen ohne gültigen Identitätsnachweis, darunter vielen Überlebenden aus den Konzentrationslagern, Hilfe zur Emigration und zum Aufbau einer neuen Existenz. Der praktische Wert dieser bis in die Gegenwart praktizierten humanitären Dienstleistung konnte und kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Bis heute konnten mehr als eine halbe MillionFlüchtlinge, Vertriebene und staatenlose Personen mit Hilfe von IKRK-Reisedokumenten das Land ihrer Wahl erreichen.
    Die Rotkreuzdelegation in der italienischen Hafenstadt Genua stellte noch am Tag der Antragstellung das erbetene Dokument aus und ermöglichte Herrn Klement damit die Übersiedlung nach Argentinien. Man vertraute schlichtweg auf die Angaben des Antragstellers, denn in der Tat verfügten die Delegationen des IKRK unter den besonderen Umständen in der Endphase und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg wohl nicht über die Mittel, eine eigene Identitätsfeststellung vorzunehmen. Man mag geteilter Meinung darüber sein, ob diese Ausnahmesituation im Jahre 1950, also mehrere Jahre nach Kriegsende, noch in gleichem Maße gegeben war und ob nicht an einem Knotenpunkt der bevorzugten und insbesondere von einzelnen katholischen Klerikern «geschützten» Fluchtroute der NS-Verbrecher ein etwas höheres Maß an Misstrauen geboten gewesen wäre – zumindest gegenüber den besonderen Schützlingen des österreichischen Bischofs und offenen NS-Sympathisanten Alois Hudal. Tatsache jedenfalls ist, dass sich – wenn auch unwissentlich – mittels Papieren, auf denen das Symbol der Hüter der Menschlichkeit prangte, neben Adolf Eichmann (alias «Ricardo Klement») auch andere Verbrecher gegen die Menschlichkeit – darunter Klaus Barbie, Joseph Mengele und Erich Priebke – dem Zugriff der Gerechtigkeit entziehen konnten, jedenfalls vorübergehend. Das IKRK hat diese Vorgänge nie verschweigen und sein Bedauern darüber ausgedrückt.
6. Das Rote Kreuz und der Zweite Weltkrieg (1939–1945)
    Knapp 1600 Seiten umfasst der Bericht des IKRK über seine Aktivitäten während des Zweiten Weltkrieges, den es 1948 der XVII. Internationalen Rotkreuzkonferenz in Stockholm vorlegte. Das einführende Kapitel hierzu wird Max Huber nicht leichtgefallen sein. Die Versäumnisse waren bekannt, und man stand in Genf bereits zu diesem frühen Zeitpunkt unter erheblichem Rechtfertigungsdruck. Und so erinnert Huber denn an dieGeschichte und Grundsätze, das Mandat und seine Grenzen, um schließlich – vielleicht auch ein wenig entschuldigend – festzustellen: realistisches Denken, das muss die Losung für das IKRK sein. In der Tat kann kein Zweifel daran bestehen, dass dieser Pragmatismus für viele Opfer dieses Krieges, insbesondere die Kriegsgefangenen, überlebenswichtig gewesen ist: 120 Millionen Botschaften zwischen Kriegsgefangenen und ihren Angehörigen sowie 24 Millionen Zivilnachrichten konnten übermittelt, mehr als 11.000 Besuche von Kriegsgefangenlagern absolviert, 445.000 Tonnen Hilfsgüter verteilt und 30 Millionen Personen registriert oder in anderer Weise unterstützt werden. Über gerade einmal drei reguläre Verwaltungsstellen verfügte das IKRK im Sommer 1939. Nein, gut vorbereitet auf die humanitären Mammutaufgaben im Zusammenhang mit dem weltweiten Zusammenprall hochgerüsteter Großmächte war man zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs in Genf wirklich nicht. Immerhin, die Kriege in China, Äthiopien, Spanien, der «Anschluss» Österreichs sowie die Invasion der Tschechoslowakei waren kaum zu missdeutende Vorboten eines großen Konfliktes gewesen. Und so konnte das IKRK denn auch bereits am zweiten Tag des Krieges, dem 2. September 1939, auf einer soliden völkerrechtlichen Basis nicht nur einen dringlichen Appell an alle kriegführenden Parteien zur Beachtung der Genfer Konvention von 1929 zum Schutz der Kriegsverletzten und

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