Das Rote Palais - Die Totenwächterin / Der Gottvampir / Die Schattenpforte: Special-eBook-Edition Trilogie (German Edition)
Man erzählt sich, dass es dort echte Monster zu sehen gibt.“ Rudger erinnerte sich an die Worte seines ersten Gesellen und daran, dass er nach einem kurzen Zögern zugestimmt hatte.
Es war ungewöhnlich, dass Rudger mit seinen Knechten regelm ä ßig in die Schenke ging, doch er unterhielt ein freundschaftliches Verhältnis zu seinen freien Dienstleuten. Sie b e suchten den bunten Jahrmarkt und wurden bald von dem Strom der Menschen zu dem größten Zelt gezogen, vor dem ein Marktschreier mit einer Kuriosit ä tenausstellung warb. Rudger zahlte den Eintritt und fand sich schon bald inmitten der stickigen Hitze eines hallengroßen Zeltes. Rundh e rum waren Podeste und Käfige aufgebaut. Zu sehen gab es eine außerordentliche Ansammlung von Kreaturen mit zum Teil unsagbaren Missbildungen. Kleinwüchsige Menschen hüp f ten zwischen den Besuchern umher und priesen mit grellen Stimmen die Abnormitäten der bedauern s werten Geschöpfe an. Mit einer Mischung aus Angst, Ekel und morbider Neugierde, zogen die Besucher von Podest zu Podest; ve r harrten vor den Käfigen und starrten mit Entsetzen auf die eingesperrten Menschen mit grauenvo l len Fehlbildungen an den Gliedmaßen. Rudger hatte damals sein Augenmerk auf die Besucher gerichtet. In dem nicht enden wollenden Strom labten sie sich an der Zu r schaustellung menschlichen Elends. Nicht selten wurde eine ohnmächtige Dame von ihrem Begleiter aus dem Zelt getragen. Ein merkwürdiges Phänomen, das er über die Jahrhunderte bis in die heutige Zeit beobachtet hatte. Je schlechter es den Menschen ging, je unzufri e dener sie waren, desto größer schien ihr Bedürfnis, das eigene Leid küns t lich aufzuwerten. Gingen sie nach solch einem Erlebnis nach Hause, füh l ten sie ihre eigene Last weniger schwer auf ihren Schultern. Sie hatten gesehen, dass es Schlimmeres gab.
Waren es zu jener Zeit Ausstellungen von Monstrositäten, florierten in der modernen Zeit die Katastrophenfilme. Sie erzeugten ein gewolltes Grauen im Zuschauer. Der Grund war stets de r selbe, die Last der eigenen Unzufriedenheit zu mildern. Damals hatte Rudger nicht geahnt, dass es in dem Zelt nur ein wirkliches Monster gab und das thronte auf einem mannshohen P o dest in der Mitte des Zeltes. Dicht gedrängt standen die Menschen vor der Anhöhe und starrten mit ratlosen Gesichtern zu Fjodora hinauf. Rudger entnahm den flüsternden Worten um sich herum, dass die Besucher sich fragten, was an der engelsgle i chen Schönheit dort oben so entsetzlich sein sollte. Er konnte es ihnen nicht verdenken, denn ihr Geheimnis verbarg Fjodora unter dem blütenweißen Gewand, das bis über die Sockel ihres Sitzes hinab fiel. Die Menschen sahen sowohl das Antlitz eines jungen Mä d chens als auch das eines hübschen Knaben, als hätte man die Scha b lonen zweier Gesichter übereinandergelegt. Es war für Fjodora ein Leichtes in Rudgers menschlichen Geist einzudringen. Ein Blick in die irisierenden Augen, die von einem dichten Wimpernkranz umra n det waren, genügte und Rudger überkam ein eigenartiger Schwindel. Sie hatte ihn erwählt.
Er schüttelte den Kopf, um die Benommenheit zu vertreiben und hatte mit einem Mal das dringende Bedürfnis nach frischer Luft. Seine Begleiter waren ihm nach draußen g e folgt und Rudger tat ihre besorgten Fragen nach seinem Befinden mit einem Wink ab. Mit dem Wi s sen von heute wäre Rudger damals nicht zurückgeeilt, als das Feuer in dem großen Zelt ausbrach. Ein Feuer von Fjodora selbst entfacht. Die Besucher waren schreiend aus dem Zelt gestürzt, das binnen kurzer Zeit lichterloh brannte. Für die meisten der ausgestellten Kreaturen gab es keine Rettung, da nur diejenigen fliehen konnten, die nicht eing e sperrt gewesen waren und Beine hatten. Rudger erinnerte sich an den Schrecken, der über ihn kam. Seine Gedanken galten dem schönen Mädchen in dem brennenden Zelt. Er mus s te sie retten.
„Kommt, wir müssen helfen“, rief Rudger seinen Knechten zu und eilte auf das bre n nende Zelt zu.
„Ihr könnt da nicht mehr rein, Herr“, kam die verzweifelte An t wort.
Doch Rudger rannte schon durch den immer größer werdenden Pulk aus Schaulustigen, von denen keiner Anstalten machte, die Opfer aus dem Feuer zu holen. Rudger hatte nie erfahren, wie es ihm gelungen war, mit Fjodora in seinen Armen aus der Feuer s brunst zu entkommen. Vermu t lich war es ihre Macht, die das Wunder bewirkte, das kurz darauf als solches in aller Munde war. Rudgers selbstlose Tapferkeit wurde von
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