Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das rote Zimmer

Titel: Das rote Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
Vom Netzwerk:
gehören dir.«
    Aber er nahm seinen Morgenmantel mit, seine südamerikanische Gitarrenmusik, seine Gedichtbände und Physikbücher, seine auberginenfarbene Krawatte. »Ich glaube, das ist alles.«
    »Möchtest du ein Glas Wein?«
    Er zögerte einen Augenblick, ehe er den Kopf schüttelte.
    »Ich muss zurück.« Er griff nach seiner Tasche.

    »Seltsame alte Welt, nicht wahr?«
    »Das ist alles?«
    »Was?«
    »Deine Grabrede auf unsere Beziehung. Seltsame alte Welt.«
    Er starrte mich mit gerunzelter Stirn an. Über seiner Nase bildeten sich zwei vertikale Falten. Ich gab ihm mit einem beruhigenden Lächeln zu verstehen, dass es nicht wirklich eine Rolle spielte. Ich lächelte, als er aufstand, um mit seinen Kartons aufzubrechen, lächelte, als er mich zum Abschied küsste, lächelte, als er die paar Stufen zu seinem Auto hinunterging, und lächelte auch noch, als er davonfuhr. Ab jetzt würde ich nur noch nach vorn blicken, nicht mehr zurück.

    Die Welbeck-Klinik steht in einem ruhigen Wohngebiet in King’s Cross. Als sie Ende der Fünfziger gebaut wurde, ging es in erster Linie darum, nicht den Eindruck zu vermitteln, dass es sich um eine Institution handelte, vor der die Leute Angst haben mussten. Das bedeutete im Grunde nur, dass das Gebäude nicht viktorianisch aussehen sollte, mit gotischen Türmchen und kleinen, winkligen Fenstern. Schließlich sollten darin Psychiater die Probleme ihrer Patienten lösen und sie als glückliche Menschen wieder in die Welt entlassen.
    Leider kam die Architektur der Klinik so gut an, dass sie von allen Seiten mit Lob überschüttet wurde und mehrere Preise gewann. Das hatte zur Folge, dass sie das Erscheinungsbild neuer städtischer Schulen, Krankenhäuser und Altersheime beeinflusste, und die Welbeck-Klinik inzwischen sehr wohl wie eine Institution aussah. Normalerweise nahm ich das Gebäude gar nicht mehr richtig wahr. Es war der Ort, wo ich tagtäglich zur Arbeit ging, mir den Mund fusslig redete, Unterlagen studierte und Kaffee trank. Als ich das Haus jetzt nach mehreren Wochen der Abwesenheit das erste Mal wieder betrat, fiel mir auf, dass es bereits Spuren des Alters zeigte, der Beton Flecke und Risse aufwies. Die Eingangstür schabte über den steinernen Treppenabsatz und gab ein kratzendes Geräusch von sich, als ich sie aufzog.
    Als ich Rosas Büro erreichte, kam sie sofort heraus und umarmte mich fest und lang. Dann hielt sie mich ein Stück von sich weg, um mich mit einem halb scherzhaften, prüfenden Blick zu betrachten. Sie trug eine anthrazitfarbene Hose und dazu einen schlichten marineblauen Pulli. Ihr Haar war mittlerweile ziemlich grau, und wenn sie lächelte, schien ihr Gesicht vor lauter feinen Fältchen zu schimmern. Was ging ihr jetzt durch den Kopf? Als ich sie vor fast sieben Jahren kennen gelernt hatte, war mir ihre außergewöhnliche Arbeit auf dem Gebiet der kindlichen Entwicklung bereits bekannt gewesen. Diese große Kinderexpertin, die selbst kinderlos geblieben war, hatte mir des Öfteren Rätsel aufgegeben, und manchmal fragte ich mich, ob wir anderen an der Klinik vielleicht darum wetteiferten, ihr klügster Sohn oder ihre gescheiteste Tochter zu sein. Die Art, wie sie die Welbeck-Klinik leitete, mochte etwas Mütterliches haben, aber es war trotzdem nicht ratsam, immer auf die Nachgiebigkeit und Versöhnlichkeit einer Mutter zu zählen. Sie konnte durchaus Härte beweisen.
    »Du hast uns gefehlt, Kit«, erklärte sie. »Schön, dass du wieder da bist.« Ich sagte nichts, zog nur ein Gesicht, von dem ich hoffte, dass es meine Zuneigung für sie zum Ausdruck brachte. Ich hatte Schmetterlinge im Bauch, fühlte mich wie an meinem ersten Tag am Gymnasium.
    »Lass uns rausgehen und ein bisschen plaudern«, fügte sie forsch hinzu. »Ich glaube, es hat zu regnen aufgehört. Ist das Wetter zurzeit nicht verrückt?«
    Wir steuerten auf den Garten hinter dem Haus zu und trafen unterwegs auf Francis. Er war ebenfalls lässig gekleidet, in Jeans und einem dunkelblauen Hemd. Wie üblich war er unrasiert, sein Haar zerzaust – ein Mann, der nicht so sehr wie ein Wissenschaftler, sondern mehr wie ein Künstler wirken wollte. Als er mich sah, schloss er mich in die Arme.
    »Wie schön, dass du wieder da bist, Kit! Fühlst du dich wirklich schon fit genug?«
    Ich nickte. »Ich brauche die Arbeit. Es ist bloß …
    irgendwie fühlt es sich an, als würde ich nach einem schlimmen Sturz vom Pferd das erste Mal wieder in den Sattel steigen.«
    Francis verzog das

Weitere Kostenlose Bücher