Das rote Zimmer
Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Zumindest versuche ich mir einzureden, dass man, wenn man nicht wirkt wie ein Opfer, auch nicht zum Opfer wird.
Vielleicht lüge ich mir da selbst in die Tasche, aber es ist irgendwie leichter, sich einzureden, dass die Leute für das, was ihnen zustößt, selbst verantwortlich sind.
Ich ging durch leere, dunkle Straßen, bis ich die Lichter und den Lärm der Hauptstraße und der U-Bahn-Station Kersey Town erreichte. Die Bremsen der Taxis quietschten, und am Zeitungsstand wurden bereits die Zeitungen des nächsten Tages verkauft. Normalerweise hätten mich die Bilder der nächtlichen Stadt fasziniert. Ich liebe es, Leuten zuzusehen, die zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein scheinen. Ich versuche mir dann immer vorzustellen, welche seltsamen Umstände und Irrwege sie dort hingeführt haben, denke mir Geschichten über sie aus. Jetzt aber waren andere Geschichten in meinem Kopf. Ich überquerte die belebte Straße und ging über den Platz, wo das geschäftige Treiben rasch nachließ.
Ich musste an Bryony denken, die spät nachts am Kanal spazieren ging. Das war dumm, wie Oban ganz richtig sagte, aber ich verstand trotzdem, was sie dazu trieb. Die Dunkelheit, die Ruhe, das sich kaum bewegende schwarze Wasser, eine seltsame, geheime Welt mitten in der Stadt.
Ich stellte mir Philippa vor, wie sie in Hampstead Heath am helllichten Tag auf einem überfüllten Kinderspielplatz stand.
Ich war so in Gedanken versunken, dass ich meinen Heimweg kaum mitbekam, obwohl ich einer komplizierten Route durch Seitenstraßen und kleine Gassen folgte. Keine hundert Meter von meiner Haustür entfernt, riss mich plötzlich etwas aus meiner Träumerei.
Erschrocken blickte ich mich um. War da irgendein Geräusch gewesen? Ich befand mich in einer ruhigen Straße mit einer Häuserreihe auf der einen und einem Friedhof auf der anderen Seite. Es war niemand zu sehen, aber dann nahm ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Ich konzentrierte mich auf die Richtung, aus der ich gekommen war, konnte jedoch nichts entdecken. War vielleicht jemand in den Schatten eines Eingangs zurückgewichen? Bis zu meiner Haustür brauchte ich höchstens noch eine Minute. Ich setzte mich wieder in Bewegung, ging mit großen, energischen Schritten weiter, die Hand in meiner Jackentasche um meinen Schlüssel gelegt. Noch eine Minute, nein, weniger, dreißig Sekunden. Im Laufschritt erreichte ich die Tür. In dem Moment, als ich den Schlüssel ins Schloss schob, legte sich eine Hand auf meine Schulter, und ich stieß vor Schreck einen kleinen Schrei aus. Mit einem beklemmenden Gefühl drehte ich mich um. Es war Michael Doll. Ich spürte seinen süßsauren Atem auf meinem Gesicht.
»Jetzt habe ich Sie gerade noch eingeholt«, sagte er lächelnd.
Ich versuchte, klar zu denken. Ruhig bleiben. Die Situation entschärfen. Ihn zum Gehen zu bewegen. Aber als Erstes musste ich die Überraschte spielen. Ich durfte nicht den Eindruck erwecken, als fände ich seine Anwesenheit mitten in der Nacht ganz normal. »Was um alles in der Welt tun Sie denn hier?«
»Ich habe Sie vermisst«, antwortete er. »Sie haben mich nicht besucht.«
»Warum hätte ich Sie besuchen sollen?«
»Ich habe viel an Sie gedacht.«
»Sind Sie mir gefolgt?«, fragte ich.
»Nein, warum sollte ich?« Er trat einen Schritt zurück und wich meinem Blick aus.
Er war mir also gefolgt. Wie lange schon? Hatte er bereits vor Will Pavics Haus auf mich gewartet?
»Waren Sie bei einem anderen?«
Bei einem anderen? Was bildete er sich ein?
»Ich muss jetzt gehen, Michael«, sagte ich.
»Kann ich mit reinkommen?«
»Nein, das können Sie nicht.«
»Nur für ein paar Minuten!«
»Es ist zu spät. Außerdem ist meine Freundin da.«
Er sah nach oben.
»Es brennt kein Licht.«
»Sie ist schon im Bett.«
»Ich möchte reden.«
Ich konnte einfach nicht fassen, dass ich um halb ein Uhr nachts vor meiner Tür stand und mit Michael Doll darüber diskutierte, ob er noch mit reinkommen könne. »Ich muss jetzt gehen.«
»Andere Leute würden Sie reinlassen.«
»Michael, es ist schon spät. Sie müssen nach Hause gehen.«
»Ich hasse mein Zuhause.«
»Gute Nacht, Michael.« Ich sagte das mit einem freundlichen, aber keineswegs einladenden Lächeln und berührte ihn dabei leicht am Arm, womit ich mein Mitgefühl zum Ausdruck bringen wollte, ohne allzu herzlich zu wirken.
»Ich möchte mit zu Ihnen.« Seine Stimme klang nicht mehr ganz so drängend.
»Es ist
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