Das rote Zimmer
den man wollte.« Sie seufzte.
»Tut mir Leid. Meiner Meinung nach solltest du es nicht tun. Warum werde ich bloß das Gefühl nicht los, dass du nicht auf mich hören wirst?«
»Es muss an der schlechten Telefonverbindung liegen.«
»Ja, das wird’s wohl sein.«
Ich legte den Hörer auf. Inzwischen hatte es zu dämmern begonnen. Wieder klatschten Regentropfen gegen die Fensterscheiben, und der Wind rüttelte an den nassen Bäumen. Ein stürmischer Juli voller Wärmegewitter. Ich trat ans Fenster und blickte versonnen auf den Garten hinaus.
Das Klingeln des Telefons riss mich aus meiner Träumerei.
»Kit, bist du es?«
Die Stimme klang sehr weit entfernt. In der Leitung knackte es. Ein Gespräch aus dem Ausland? Vielleicht auch nicht. New York kann näher klingen als Süd-London.
»Ja?«
»Hier ist Julie.« Ratloses Schweigen meinerseits. Julie.
Julie. Julie. Mir fiel niemand ein. »Julie Wiseman.«
»Oh , Julie. Aber ich dachte, du wärst …« Sie war weggegangen. Aus meiner Welt verschwunden.
»Ich bin zurück. Wieder in London.«
Zurück von wo? Sollte ich das wissen? Ich versuchte sie mir vorzustellen, wie ich sie das letzte Mal gesehen hatte.
Dunkles, lockiges Haar – hatte sie es damals nicht hochgesteckt getragen? Plötzlich erinnerte ich mich wieder. Ich musste lächeln. Lange Abende in billigen Restaurants, eingehüllt in Wolken von Zigarettenqualm.
Eines Abends waren wir alle so lange sitzen geblieben, dass irgendwann die Köche aus der Küche kamen und eine Flasche Wein mit uns tranken. Das Bemerkenswerteste war, dass Julie etwas getan hatte, wovon wir alle behaupteten, es auch tun zu wollen, insgeheim aber wussten, dass wir nie den Mut aufbringen würden. Sie war Mathelehrerin an einer Realschule gewesen, aber eines Tages hatte sie ihre Kündigung eingereicht und war zu einer Reise um die Welt aufgebrochen oder nach Südamerika, genau wusste ich es nicht mehr. Ich spürte, wie mir warm ums Herz wurde. Ich sagte ihr, dass sie uns gefehlt habe und wir uns freuen würden, sie wiederzusehen. Sie antwortete, sie würde mich am liebsten gleich besuchen, und im weiteren Verlauf unseres Gesprächs stellte sich heraus, dass sie ihren Besuch gern ein wenig ausdehnen würde. Nun fiel es mir wieder ein.
Sie hatte ihre Wohnung aufgegeben, bevor sie aus England verschwunden war. Was hatte sie damals eigentlich mit ihren ganzen Sachen gemacht? Alles verschenkt, wie ich sie kannte. So war Julie, großzügig mit ihren eigenen Sachen, aber auch großzügig mit denen anderer Leute. Ob sie ein, zwei Tage bleiben könne? Ich zögerte einen Moment, aber mir fiel kein einziger Grund ein, warum sie nicht ein paar Tage bei mir wohnen sollte.
Als sie zur Tür hereinkam, brachte sie einen Hauch der großen, weiten Welt mit. Ein großer Rucksack und eine braune Leinentasche landeten so heftig auf dem Boden, dass sie Staub aufwirbelten. Sie trug braune Lederschuhe, eine khakifarbene Hose aus einem groben Stoff und eine blaue Steppjacke, die irgendwie tibetanisch aussah. Julies Gesicht war nicht nur braungebrannt, es wirkte wie sandgestrahlt, von Wind und Wetter poliert. Auch ihre Hände und Handgelenke waren braun, und ihre Augen funkelten.
»Lieber Himmel, Kit, was um alles in der Welt ist mit deinem Gesicht passiert?«
»Na ja, weißt du, es war …«
Aber sie hatte sich bereits wieder abgewandt und wühlte in einer Plastiktüte herum.
»Ich hab dir was mitgebracht«, erklärte sie. Ich rechnete damit, dass sie irgendeinen alten, handgeschnitzten Buddha herausziehen würde, aber es war eine Flasche Gin aus dem Dutyfreeshop. »Vielleicht hast du ein bisschen Tonic zum Mischen«, meinte sie. »Ansonsten kann ich auch schnell lossausen und welches besorgen.«
Offenbar stand außer Frage, dass diese Flasche auf der Stelle geöffnet werden musste.
»Kein Problem«, sagte ich. »Ich habe welches da.«
»Und könnte ich mir auch rasch was zu essen machen?
Ich hab im Flugzeug ungefähr dreizehn Stunden geschlafen.«
»Wo kommst du denn gerade her?«
»Ich habe ein paar Wochen Zwischenstation in Hongkong eingelegt«, antwortete sie. »Eine erstaunliche Stadt. Vielleicht ein paar Spiegeleier.«
»Mit Speck?«
»Das wäre großartig. Und Brot, wenn du hast. Während der letzten paar Monate habe ich immer wieder davon geträumt, nach England zurückzukommen und mir so ein richtig schönes altes Pfannenfrühstück zu genehmigen –
Eier und Speck und Tomaten und Brot, alles zusammen gebraten.«
»Ich werde ein
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