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Das rote Zimmer

Titel: Das rote Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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vor, dass die drei mich von ihrem Fenster aus beobachteten und sich dann mit besorgter Miene ansahen. Wie konnte ich ihnen jemals wieder gegenübertreten?
    Ich fuhr bis zu dem kleinen dreieckigen Friedhof zwischen dem Delikatessenladen und dem Uhrmacher, der nicht weit von meiner Wohnung entfernt lag. Dort stieg ich aus und ließ mich ins Gras fallen, den Rücken gegen die schöne Rotbuche gelehnt. Albie und ich waren hier manchmal hergekommen und hatten unter diesem Baum gesessen. Er war noch feucht vom Regen der letzten Nacht, und ich spürte, wie mir die Kälte in die Knochen kroch. Ich wandte mein Gesicht der Sonne zu, die gerade hinter einer grauen Wolke hervorkam. Direkt über mir sang eine Amsel aus voller Kehle. Ich atmete tief ein. Ein, aus, ein, aus. Versuchte, das Gefühl der Panik loszuwerden, das in mir aufstieg.
    Nach einer Weile stand ich auf und ging zum Wagen zurück. Meine Beine hatten zu zittern aufgehört, fühlten sich aber an wie Blei. Mein Kopf dröhnte. Bevor ich losfuhr, klappte ich die Blende herunter und betrachtete mich einen Moment im Spiegel. Mein Blick fiel auf die Narbe, die sich weiß an meiner Wange herabschlängelte.
    Ich beugte mich ein wenig vor, sodass meine Augen nur noch in ihr eigenes Spiegelbild starren konnten.
    Ich hoffte, Julie würde nicht zu Hause sein, aber als ich versuchte, meinen Schlüssel ins Schloss zu stecken, kam sie an die Tür und öffnete. Ihre Wangen waren gerötet. Sie warf mir einen ziemlich entnervten Blick zu, sagte aber in munterem Ton:
    »Kit! Gut, dass du da bist. Du hast Besuch. Ich habe ihm gesagt, dass ich nicht wisse, wann du zurückkommst, aber er wollte warten. Er hat gesagt, er sei ein Freund von dir.«
    Ich zog meine Jacke aus und trat ins Wohnzimmer. Über der Sofalehne sah ich einen männlichen Hinterkopf. Der Besucher erhob sich. »Sie hatten mir versprochen wiederzukommen«, erklärte er mit seiner weichen, hohen Stimme. Michael Doll, in derselben schmuddeligen orangefarbenen Hose, die er auch bei unserem letzten Treffen getragen hatte, und einer alten grauen Weste mit Schweißflecken unter den Achseln.
    »Michael!« Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Es war, als hätte mein immer wiederkehrender Albtraum Gestalt angenommen, um sich in einem Winkel meiner Wohnung einzunisten.
    »Ich habe auf Sie gewartet«, fügte er in klagendem Tonfall hinzu.
    »Woher wissen Sie, wo ich wohne?«
    »Ich bin Ihnen mal von der U-Bahn gefolgt«, antwortete er, als wäre dies das Normalste der Welt. »Sie haben mich nicht bemerkt.«
    »Ich gehe jetzt«, verkündete Julie. »Ist das in Ordnung, Kit? Oder möchtest du, dass ich bleibe?«
    »Wie lange ist er denn schon da?«, flüsterte ich mit dem Rücken zu Michael, der sich wieder auf dem Sofa niedergelassen hatte.
    »Eine gute Stunde.«
    »O Gott! Gott, das tut mir Leid. Du hättest mich anrufen sollen!«
    »Hab ich doch. Ich hab drei Nachrichten auf deinem Handy hinterlassen.«
    »O Gott!«, sagte ich noch einmal.
    »Geht es dir nicht gut?«
    »Doch. Nein. Ich weiß nicht. Du hättest ihn nicht reinlassen sollen.«
    »Kit«, meldete sich Michael vom Sofa her zu Wort.
    »Auf mich macht er einen recht harmlosen Eindruck, Er hat bloß die ganze Zeit auf meinen Busen gestarrt.«
    »Hab ich nicht«, sagte Michael beiläufig, als wäre das sowieso völlig nebensächlich. »Warum sind Sie nicht mehr gekommen, obwohl Sie es mir versprochen hatten?«
    »Ich war sehr beschäftigt.«
    »Sie haben gesagt, Sie würden mich wieder besuchen.«

    »Ich weiß, aber –«
    »Man sollte halten, was man verspricht.«
    »Ja.«
    »Das ist sonst nicht fair.«
    »Sie haben Recht.«
    Am besten, ich sage so wenig wie möglich, dachte ich.
    Ich darf nicht zulassen, dass er irgendwelche Ansprüche anmeldet. Und vor allem muss ich zusehen, dass ich ihn aus der Wohnung rauskriege, ohne ihn in Rage zu bringen.
    Er nickte, als wäre er mit seinen Worten zufrieden, und legte die Hände auf die Knie. An seinem linken Unterarm hatte er eine frische Narbe, am Handgelenk einen hässlichen Schorf.
    »Bekomme ich jetzt eine Tasse Kaffee? Ich habe Ihnen auch Kaffee gemacht.«
    »Sie haben doch schon drei Tassen getrunken«, warf Julie ein.
    »Vier Stück Zucker, bitte.«
    »Ich muss noch mal weg, Michael. Tut mir Leid, aber Sie können nicht hier bleiben.«
    »Und noch einen von diesen Keksen, die ich vorhin mit Ihrer Freundin gegessen habe.« Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.
    Ich spürte, wie mir schlecht wurde. »Michael,

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