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Das sag ich dir

Das sag ich dir

Titel: Das sag ich dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanif Kureishi
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ich nach Ajita keine Lust mehr auf sexuelle Eifersucht hatte. Ich wollte keine Macht über Karen besitzen; ihr Leben und ihr Körper gehörten ihr. Ich wollte mit einer Frau sein, die ich nicht wirklich begehrte. Wenn die Liebe das einzig Intensive in der Stadt ist, welche Art von Liebe verband uns dann miteinander?
    Wir verbrachten viele Abende zusammen. Wir lagen mit einem Aschenbecher im Bett, der Fernseher lief, und sie aß Eiscreme aus der Dose. Wir lasen die gleichen Zeitschriften, weil wir uns beide für das Gleiche interessierten - für Frauen und wie man eine wurde. Und weil sie gern kokste, redeten wir gleichzeitig. Bei Karen gab es kein vulgäres Gefummel mit Kreditkarten oder aufgerollte Fünf-Pfund-Scheine, mit denen man das Zeug vom Klodeckel schnupfte. Sie kaufte den Stoff in kleinen Fläschchen, die oben einen winzigen Löffel hatten. Es dürfte nicht billig gewesen sein, doch sie und die anderen Mädchen, die ihre Wohnung in der Chelsea Manor Street besuchten, hatten in einer Welt gelebt - ganz anders als die von mir und Miriam -, in der es immer Geld gegeben hatte und immer geben würde.
    Ich will nicht behaupten, dass wir einander nie geküsst oder berührt hätten. Vielleicht wollten wir den Sex auch nur deshalb vergessen, weil es zu viel davon gab. Ich studierte ja nicht nur Psychologie, Philosophie und Psychoanalyse, sondern entwickelte mich auch langsam zu einem Porno-Schreiber.
    Ich hatte Mutter verlassen und durch Bücher ersetzt. Und bei meiner Arbeit war ich immerhin auf etwas gestoßen, das mir gefiel. Egal, was ich im Leben tat, meist war ich gelangweilt; ich fühlte mich entweder unterfordert oder überfordert. Aber damals studierte ich gern, ich las gern, und ich genoss meine Ausbildung, obwohl sie kostspielig war. Ich ging immer noch zu Tahir und besuchte außerdem Vorlesungen über Träume, den Ödipus-Komplex und das Unbewusste. Ich las Freuds frühe Jünger, Ferenczi, Adler, Jung, Theodor Reik und die späteren Analytiker, Klein, Winnicott und Lacan. Die Tradition reichte nicht weit zurück, vielleicht knapp hundert Jahre, aber Literatur gab es gleich tonnenweise, und der Stil war fast immer ungenießbar. Wenn der größte Vorteil des Lesens darin besteht, dass man dabei liegen kann, so lag Karen neben mir, schaute Videos und las Taschenbuch-Schwarten mit Hochglanzcover, die vom Shoppen handelten, während sie darauf wartete, dass ihr Gesicht im Fernsehen auftauchte.
    Ich machte erste Termine mit Patienten und merkte schon bald, dass das Zuhören eine der schwierigsten Aufgaben ist, die man sich aufbürden kann. Tahir hatte mich gelehrt, dass sich die Wahrheit nicht hinter einer verriegelten Tür oder in einem Kellergewölbe namens »das Unbewusste« verbarg, sondern offen vor dem Patienten und dem Analytiker lag und nur darauf wartete, gehört zu werden. Das verlorengegangene Objekt war der Schlüssel zur Sprache. Laut Freud sollte man sich dem Unbewussten mit »freischwebender Aufmerksamkeit« widmen. Hier war das Unbewusste des Therapeuten das wirksamste Werkzeug, und hinzu kam das freie Spiel seiner Assoziationen und seiner Phantasie. Wenn die Deutung schließlich gelang, musste sie dem Schnitt eines Chirurgen gleichen, der zur rechten Zeit und am rechten Ort das Messer ansetzte.
    Das Zuhören ist nicht irgendeine Art von Liebe, sondern es ist Liebe. Doch in Gegenwart meiner ersten Patienten versuchte ich, meine Angst davor in den Griff zu bekommen, einem wildfremden Menschen zu lauschen, dessen Träume und wirres Gerede ich nicht verstand. Manchmal fühlte ich mich wie bei dem Versuch, The Waste Land nach einer ersten Lektüre zu entschlüsseln. Ich hasste die Patienten, und ich hasste meine eigene Unbeholfenheit, wenn ich in den Strudel ihrer Leidenschaften, die Strömungen und die Gischt ihres Unbewussten hineingerissen wurde. Ich fragte mich, wer mehr Angst hatte, Analytiker oder Patient, und ich wäre am liebsten aus dem Zimmer gerannt. Ich musste erst lernen, dass man - auf beiden Seiten - nicht zuletzt davor Angst hatte, etwas Neues zu erfahren. Es war Geduldsarbeit, und ich lernte Geduld, schärfte meinen analytischen Instinkt und lernte, Zeit und Raum auf eine Art zu gestalten, die es dem Patienten erlaubte, sich selbst zu hören oder zu begegnen. Im Grunde war das meine wahre Lehrzeit. Ich besuchte Tahir, um mit ihm darüber zu reden, und obwohl er zu jenem Zeitpunkt schon trank und ziemlich streitsüchtig war - vor allem, wenn es um die Theorien anderer Analytiker

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