Das sag ich dir
durch das Haus lief, sich kämmte, duschte, anzog, las. Sie war nie die Gleiche, denn ihr Aussehen veränderte sich je nach Stimmungslage, und ich beobachtete sie, ja ich lebte für diese Beobachtungen, wie ein Kind mit seiner Mutter lebt. Nachts, wenn sie schlief, horchte ich auf ihre Atemzüge und küsste ihr Haar. Wir hatten unsere Probleme und Auseinandersetzungen, doch ich ging davon aus, dass sie hier bei mir sein wollte, dass ich ihr für alle Zeit alles bedeuten würde.
Ich wurde ein Connaisseur ihres Körpers - war wie gebannt davon, ja sogar besessen. Ich brauchte ihre Gesellschaft, ihre beruhigende Anwesenheit wie ein Kind und musste zugleich immer wieder in die Welt entfliehen.
»Zeigst du mir, was du in letzter Zeit gemacht hast?«, fragte ich. »Deine neuen Arbeiten?«
Sie holte die Mappe und breitete ihre neuesten Zeichnungen auf dem Fußboden aus. Oft waren Freunde daran interessiert, eine zu kaufen, aber sie nahm nur selten Geld für die Bilder, sondern verschenkte sie lieber. Einer ihrer Akte hing gerahmt in meinem Sprechzimmer. Daneben hing André Brouillets berühmte Radierung von Charcot - dem P. T. Barnum der Hysterie -, der im Hörsaal des Salpètrière- Krankenhauses von Paris eine seiner berühmtesten Hysterikerinnen vorstellte, die Somnambulistin Blanche Wittman. Freud hatte auch stets einen Abzug dieser Radierung in seinem Büro gehabt. In dem gleichen Krankenhaus starb Jahrzehnte später das letzte Supermodel der Hysterie, Prinzessin Diana.
Ich schaute mir Josephines Zeichnungen an und lobte ihre Fortschritte. Sie erzählte mir von ihrem neuen Kurs im Aktzeichnen, der sich über einen ganzen Tag erstreckte, und von ihrem Lehrer, der sie natürlich ermutigte, selbst Modell zu stehen und Künstlerin zu werden. Sie schwelgte in der Vorstellung, eine Künstlerin zu sein - sie bewunderte die leidenschaftlich zärtlichen und unheimlichen Phantasien Paula Regos, vor allem die Drucke.
Eigentlich wollte Josephine nur eines, nämlich Kunst machen, aber wenn man davon absah, dass sie ihre eigene Vision noch nicht entwickelt hatte - als wüsste sie nicht genau, wer sie war -, wurde sie von Schuldgefühlen gebremst. Sie fühlte sich schuldig, weil sie keine Karriere machte und kaum Geld verdiente.
Im Vergleich mit all den Managerinnen mit ihren eleganten Anzügen, Computern und schnellen Autos hielt sie sich für eine Versagerin. Ich erwiderte, dass Männer diese Frauen leider nicht für fraulicher hielten, nur weil sie Erfolg hatten. Aus irgendeinem Grund galt dies umgekehrt nur für Männer.
Daher lobte ich Josephines Zeichnungen und wartete darauf, dass sie zu strahlen begann und danach einen Anfall von Selbsthass bekam. »Aber ich bin zu faul, ich arbeite nicht genug, und ich verdiene auch nicht genug. Ich liege immer noch tagelang im Bett und kuschele mich ins Kissen ...«
Sie unterbrach sich, um mich zu fragen, ob ich gerade etwas schreibe. Ich erzählte ihr von einer Idee, die aber noch recht unausgegoren sei. Henry war nie ein großer Leser meiner Texte gewesen, denn er sah in allem, was ich sagte, nur eine Möglichkeit, seine eigenen Ideen zu entwickeln. Josephine las wenig, doch ihre Kommentare waren immer nützlich.
Ich sagte, ich wolle die Analyse aus ihrer methodischen Grauzone und der Wissenschaftlichkeit herausführen - die Analytiker würden ja nur füreinander sowie für Studenten schreiben - und auf eine populärere Ebene heben, auf der ich, wie Freud in seinen hellsichtigen Schriften, all jene Themen behandeln könne, die für jeden von Interesse seien: Kindheit, Sexualität, Krankheit, Tod, das Problem der Lust. Denn sonst blieben der Öffentlichkeit nur noch diese Selbsthilfe-Bücher, deren Verfasser ihren Doktor auf den Titel setzten, was aus irgendwelchen Gründen stets eine Garantie für Dummheit sei.
»Du hast ein Händchen für diese kurzen Essays«, sagte sie. »Du solltest weiter so flott und schräg schreiben. Das macht deine Einzigartigkeit und Unkonventionalität aus. Diesen Stil beherrschst nur du.« Sie schaute mich an und sagte: »Bedrückt dich etwas? Du ziehst dieses traurige, verletzte Gesicht.«
»Tatsächlich?«
»Magst du mir sagen, warum? Hast du Sorgen? Ist es ein Patient?«
»Wirfst du mal einen Blick auf das, was ich geschrieben habe?«, fragte ich. »Du weißt ja, dass ich manchmal auf dich höre.«
Sie lachte plötzlich auf und sagte: »Gestern dachte ich: Wir dürfen nicht vergessen, dass die meisten Leute beim Kacken lesen.«
»Absolut
Weitere Kostenlose Bücher