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Das sag ich dir

Das sag ich dir

Titel: Das sag ich dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanif Kureishi
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die USA fliehen wollen, doch sein letzter Flug ging nach London. Als er das Flugzeug mit dem Rest der Besatzung für den Rückflug nach Sofia bestieg, machte er kehrt und spurtete los, rannte blindlings durch den Flughafen, bis er auf einen Polizisten stieß. Verschiedene Flüchtlingsorganisationen halfen ihm. Eine Frau, die für eine dieser Organisationen arbeitete, war mit einem Professor für Philosophie verheiratet. Dort ging er hin, und so kam es, dass er in meinem College-Kurs auftauchte.
    Valentin konnte nicht nach Hause zurückkehren, und seine Eltern, Geschwister und Freunde würde er nie wiedersehen. Dieses Trauma torpedierte den Erfolg, den er hätte haben können. Anstatt wie geplant in England zu studieren, gammelte er herum und hielt - meist mit mir und unserem deutschen Kumpel Wolf - Ausschau nach reizvollem Zoff und Streit.
    Durch Valentin war es mir möglich, mich zu Ajita zu setzen. Ich ertrug es sogar, dass er wie üblich damit angab, wie nah sein Zimmer beim College sei und dass er nur fünf Minuten bis zu einer Vorlesung brauche. Ich dagegen musste erst mit dem Bus und dann mit Zug und U-Bahn fahren. Das dauerte anderthalb Stunden, aber dank der Verspätungen von British Rail konnte ich mich in Wittgensteins Philosophische Untersuchungen und Freuds Die Traumdeutung vertiefen. In dieser Zeit begann ich zum ersten Mal ernsthaft zu lesen, und mir war, als hätte ich eine Liebhaberin gefunden, die mich rundum zufriedenstellte und von der ich nie mehr lassen würde.
    Mit Valentins Hilfe kamen Ajita und ich ins Gespräch. Sie war Inderin, und wie sich herausstellte, lebte sie ganz in der Nähe von Miriam, Mum und mir in den Vororten. Ajitas Mutter hatte England nicht gutgeheißen, sondern für einen »dreckigen Ort« voller kaputter Familien befunden, für sexuell pervers, korrupt und drogenverseucht. Vor einem halben Jahr hatte sie ihre diversen Koffer gepackt und war nach Bombay entschwunden, dem Geburtsort meines Vaters. Ihren Mann und die zwei Kinder hatte sie unter der Obhut einer Tante zurückgelassen, der ältesten Schwester des Vaters. Ajitas Mutter passte es nicht, ohne Diener und Freunde in den weißen Vororten zu leben. In Bombay logierte sie im Haus ihres Bruders. Er war Hotelbesitzer; es wimmelte nur so von Filmstars; Hilfe war billig.
    Ajita sagte: »Dort ist es, als hätte man die ganze Zeit Urlaub. Aber mein Vater ist ein stolzer Mann. Er würde nie Geld von anderen nehmen.« Ajita schien zu vermuten, dass ihre Mutter Liebhaber hatte, deutete jedoch an, dass sie zurückkehren könnte, falls die Umstände eher nach ihrem Geschmack waren. Also bemitleidete Ajita ihren einsamen Vater, der einen Ausbeuterbetrieb im East End besaß und selten zu Hause war.
    Nach dem Kaffee bot Ajita mir an, mich in die Vororte mitzunehmen. Obwohl ich gar nicht zurückwollte - ich war ja gerade erst in London eingetroffen und hatte eigentlich vor, den Rest des Tages mit Valentin und Wolf zu verbringen -, wäre ich überall mit ihr hingefahren. Dieses Mädchen hatte viele Vorzüge: Geld, ein Auto - einen goldfarbenen Capri, in dem sie den neuesten Funk hörte -, ein großes Haus und einen reichen Vater. Als Valentin sie fragte: »Und was macht dein Freund so?«, antwortete sie: »Ach, eigentlich habe ich gar keinen.« Was wollte man mehr?
    »Sie gehört dir«, flüsterte Valentin, als ich ging. »Danke, mein Freund.«
    Er war eben großzügig. Andererseits wurde er von so vielen Frauen umschwirrt, dass eine mehr oder weniger den Kohl auch nicht fett machte. Für ihn waren sie eine Selbstverständlichkeit. Möglich auch, dass ihm die meisten zwischenmenschlichen Interaktionen gleichgültig waren. Er konnte stundenlang nahezu reglos dasitzen, rauchen und ins Leere starren, ohne wie ich ständig ängstlich auf dem Stuhl herumzurutschen oder von Sehnsuchtsanfällen gebeutelt zu werden.
    Eine solche Gefestigtkeit war vermutlich von Vorteil. Am Vorabend hatte ich mich mit einem Freund unterhalten, der Drehbücher schrieb und gerade an einem Film über »harte Kerle« arbeitete, in dem es um die Frage ging, wieso Männer auf Gangster abfuhren. Starke Typen machten sich nichts aus Feinheiten, sie blieben ungerührt, Schuldgefühle kannten sie nicht. Im Grunde waren sie Narzissten und, was ihre Rechte betraf, gnadenlos wie Kinder. Ich fand sie so selbstgenügsam, in sich ruhend und undurchschaubar wie jemand, der für alle Ewigkeit ein Buch liest.
    So wollte ich also sein. Warum? Wahrscheinlich, weil ich als Kind, wenn

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