Das sag ich dir
Miriam und ich miteinander gerangelt oder wenn sie mich gekitzelt hatte - sie war schwerer, zupackender und auch viel fieser als ich; es gefiel ihr, mich zu boxen oder mit Stöcken zu verprügeln, was, wie mir jetzt einfiel, auch Josephine gern getan hatte -, nicht das Gefühl losgeworden war, dass ich das Mädchen und sie der Junge war. Wie viele andere stellte auch ich fest, dass der Körper, der mir gegeben worden war, mit meinem Geschlecht nicht übereinstimmte. Da ich dünn, zart und breithüftig war, glaubte ich, den Körper eines kleinen, schwachen, noch nicht geschlechtsreifen Mädchens zu haben. Mutter nannte mich nicht gutaussehend, sondern »schön«. Ich litt unter schlimmen Gefühlsausbrüchen - schrie innerlich - und lag danach leer, verzweifelt und heulend auf dem Bett. Ich träumte oft, der Michelin-Mann zu sein, mit Luft gefüllt statt mit Gewicht und Gewichtigkeit, und eines Tages würde ich einfach davonsegeln, weil mich keine Männlichkeit verankerte. Was machten Männer denn? Sie waren Gangster, sie bahnten sich wild entschlossen und heißblütig ihren Weg durch die Welt. Ob ich so mit Ajita sein konnte?
Ajita und ich redeten während der ganzen Fahrt durch Südlondon. Je näher wir unserem »Anwesen« kamen, wie wir es damals nannten, desto nervöser wurde ich. Ich war erleichtert, als sie mich fragte, ob ich mit zu ihr kommen wolle.
»Da sind wir«, sagte sie wenig später und machte den Motor aus.
Ich fand Ajitas Haus immer amerikanisch, und zwar deshalb, weil es in einer neuen Straße stand, einer Sackgasse, und weil es jene Art von Haus war, die man in der Serie I Love Lucy sehen konnte.
Das Gebäude war nicht sehr hoch, hell, offen und großflächig verglast. Auf der einen Seite stand eine breite Garage, und davor erstreckte sich ein soldatisch kurz gehaltener und von einem niedrigen Lattenzaun umgebener Rasen. Im Haus gab es indische Teppiche, Wandbehänge und Gobelins, hölzerne Elefanten, Schalen und Korbmöbel. Das war auch schon so ziemlich alles. Sie hätten das Haus genauso gut gemietet haben können, mitsamt der folkloristischen
Einrichtung, aber sie hatten es vor vier Jahren gekauft, nachdem sie mit ein paar Habseligkeiten aus Uganda geflohen waren.
Ajitas Haus gefiel mir, und ich wollte nicht nur wegen ihr dort sein, sondern auch, weil die meisten Häuser, die ich aus den Vororten kannte, alt waren: Die Möbel stammten aus der Zeit vor dem Krieg. Sie waren schwer und dunkelbraun, und als Kind kratzte ich mit den Fingernägeln den Lack ab. Mein Großvater mütterlicherseits - er hatte Mum das Haus vererbt - hatte ein Geschäft für gebrauchte Möbel gehabt, einen von Miriam und mir so genannten Ramschladen, aus dem fast alle Möbel in unserem Haus stammten. Kamingitter, Uhren, die tickten und schlugen, Rüschengardinen, Bilderrahmen, Querbehänge, Nachttöpfe und schmale Betten, die Mutter, nachdem sie Dad kennengelernt hatte, gleich dutzendweise mit fernöstlichen Bildern, lackiertem Nippes und Stoffen mit verschlungenen Mustern dekoriert hatte.
In meiner Kindheit und Jugend passte oft mein Großvater auf mich auf. Er trug den damals obligatorischen Hut, lange, weiße Unterwäsche, Krawatte, eine weite, von Trägern gehaltene Hose und mächtige Stiefel, die er mit Rasierklingen aufschnitt, damit seine Hühneraugen »Luft« hatten. Er überlegte nie, was mir Spaß machen könnte, sondern nahm mich einfach mit. Als er noch die Läden besaß, spielte ich dort den ganzen Tag und rammte Schraubenzieher in die Uhren. Später saß ich sehr oft über Mittag mit ihm im Pub - für ihn Club und Büro -, wo er sich in den Zeitungen über die Gebräuche der Gegenwart informierte, Guinness trank, Selbstgedrehte rauchte und ein Steak-and-Kidney-Pie aß, meist alles gleichzeitig.
Damit mir nicht langweilig wurde, reichte er mir Daily Express oder People, und meine Sucht nach Zeitungen hat seither nicht nachgelassen. Aber das war längst nicht alles: Wir fuhren nach Epsom zu den Pferderennen, nach Catford zu den Hunderennen und mit dem »Ausflugsomnibus« nach Brighton, um Taubenzüchter zu treffen. Samstags suchten wir die Fußballplätze in der näheren Umgebung auf. Der nächste war Crystal Palace, aber Millwall - »Die Löwengrube« - war der gefürchtetste. Auf dem Weg durch das Viertel zeigte mir Opa Stellen, wo manche seiner früheren Schulfreunde durch Bomben getötet worden waren, und Bunker, in denen er mit Mama Schutz gesucht hatte, als diese noch ein Kind gewesen war.
Die Pubs
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