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Das sag ich dir

Das sag ich dir

Titel: Das sag ich dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanif Kureishi
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konnte es auf der relativ kleinen Oberfläche eines Mädchenkörpers geben? Ziemlich viel.
    Auf einmal kamen mir die Philosophie und die Suche nach Wahrheit, die ich bis dahin angehimmelt hatte, idiotisch vor. Der Professor mit Grimassengesicht, ausgeleiertem Pullover und Cordhose - für uns ein Greis, von heute aus betrachtet mein Alter, vielleicht sogar jünger - kam mir vor wie ein valiumbenebelter Clown, der darauf bestand, uns Wissen einzubimsen. Immer wenn er mit Nachdruck »Cunt«, also »Fotze« sagte, laut seiner Beteuerung die korrekte Aussprache von Kant, machte ein heimliches Grinsen die Runde. Man darf nicht vergessen, dass die Unis noch vor kurzem die Zentren von politischen Theorien, Kritik, ja sogar der Revolution gewesen waren!
    Wahrheit war die eine Sache, doch Schönheit, die nun neben mir saß, war eindeutig eine andere. Obwohl dieses Mädchen schwer beladen gewesen war, hatte sie nicht einmal etwas so Banales wie ein Notizbuch oder einen Stift dabei. Ich musste ihr Schreibpapier und meinen Kugelschreiber borgen, der einzige, den ich dabeihatte. Ich flunkerte, ich hätte noch ein paar in der Tasche. Ich hätte ihr sämtliche Kugelschreiber und Bleistifte gegeben, die ich besaß, ja, absolut alles, worum sie mich bat, Körper und Seele eingeschlossen, aber das kam erst später.
    Nach dem Seminar saß sie allein in der Mensa. Ich brauchte meinen Stift, aber hätte ich den Mut, sie anzusprechen? Ich höre lieber zu. Tahir, mein erster Analytiker, sagte oft: Die Leute reden, weil es Dinge gibt, die sie nicht hören wollen, und sie schweigen, weil es Dinge gibt, die sie nicht sagen wollen. Nicht, dass ich damals geglaubt hätte, eine Begabung zum Zuhören zu besitzen, und ich kam auch nicht auf die Idee, dass man diese zu seinem Beruf machen könnte. Verbal war ich eine Niete. (Natürlich redete ich die ganze Zeit, aber nur mit mir selbst. Da konnte nichts schiefgehen.)
    Jahrelang verblüffte ich Frauen mit meiner Angewohnheit des Zuhörens. Einige standen nach einer Weile am Rande des Nervenzusammenbruchs, weil sie ununterbrochen nach etwas gesucht hatten, das mich endlich zum Reden brachte. Ich weiß noch, dass ein Mädchen schreiend aufsprang und zur Tür rannte, nachdem ich ihr einen ganzen Nachmittag gelauscht hatte: »Ich fühle mich wie ausgesaugt! Du hast mich ausgeplündert!«
    Um auf Zeit zu spielen, vielleicht auch in der Hoffnung, dass sich Ajita in Luft auflösen würde, ging ich mir einen Kaffee holen. Als ich mich umdrehte, musste ich allerdings feststellen, dass mir mein bester Freund, der gutaussehende, coole Valentin, in die Mensa gefolgt war. Er hatte sich mit seinem Kaffee direkt neben sie gesetzt. Der Himmel weiß, wie der Kaffee damals geschmeckt hat. Vermutlich war er löslich, genau wie der Kartoffelbrei und die Puddings, die wir in uns hineinschaufelten.
    Einfach Wasser hinzufügen und fertig. (Das wurde damals gekauft, man stelle sich vor!) Von diesem Zeug abgesehen, dürfte kaum etwas in den Regalen gestanden haben, aber Wasser gab es. Mein Vater, der als Kind in Indien die britische Besatzungsmacht erlebt hatte, wies gern darauf hin, dass sich Großbritannien, obwohl der Krieg dreißig Jahre zurückliege, immer noch von einer fast tödlichen Krankheit erholen müsse - Machtverlust, wie ich annehme, Richtungslosigkeit und Depression. Man nannte unser Land »Den kranken Mann Europas«. Das britische Kolonialreich ging nicht tragisch, sondern kläglich unter.
    Für mich war es ein Glück, für Valentin aber ungewöhnlich, dass er an diesem Vormittag da war. Er besuchte nur wenige Lehrveranstaltungen. Für seinen Geschmack begannen sie viel zu früh, vor allem, wenn er nachts zuvor im Kasino gearbeitet hatte. Irgendwann schlug er dann im College auf, um ein paar Mädchen und mich zu treffen, vor allem aber, weil das Mensaessen billig war. Valentin war Bulgare. Ich bat ihn oft, mir seine Flucht aus Bulgarien zu schildern, und jedes Mal kamen neue Details hinzu. Ich kenne keine andere »wahre« Lebensgeschichte, die so spannend wäre. Er hatte seinen Wehrdienst abgeleistet und als Radrennfahrer an den Olympischen Spielen teilgenommen, und fechten und boxen konnte er auch. Er hatte sich so wunderbar angepasst, dass er bei der bulgarischen Fluggesellschaft Steward werden durfte, einer der wenigen Jobs im Ostblock, bei denen man reisen konnte. Er hatte ein Jahr bei der Gesellschaft gearbeitet, ohne seine Fluchtpläne zu verraten, aber irgendjemand hatte Lunte gerochen. Er hatte in

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