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Das sag ich dir

Das sag ich dir

Titel: Das sag ich dir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hanif Kureishi
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Bekannten mit oder verschwand mit jemandem, wenn ihm die Sache nach ein paar Minuten zu langweilig wurde. Mich schleppte er auch mit, und ich war neugierig. Außerdem interessierte mich, was er zu sagen hatte.
    Henry war zwölf Jahre älter als ich, und er hatte sein ganzes Leben in London verbracht und dort gearbeitet. Er kannte »jede und jeden«. Nach dem Scheitern seiner Ehe hatte er zwei Jahre eine Analyse bei einem schweigsamen, strengen Typen der alten Schule gemacht, der ihm geistig unterlegen gewesen war. Henry interessierte sich für Therapie, zumal er behauptete, »ein total fertiges, abgefucktes Wrack« zu sein, doch sein Interesse war nicht so groß, als dass er sich einen neuen Analytiker gesucht hätte. Er benutzte mich, wenn er über seine Probleme reden wollte - er kam ohne Umschweife auf die intimsten und gewichtigsten Themen zu sprechen -, aber das war nicht alles, worauf unsere Freundschaft beruhte.
    Zu Anfang meiner Laufbahn hatte ich natürlich nur wenige Patienten, die meisten davon Nervensägen, denn sie wollten sich nicht von mir kurieren lassen. Durch Karen hatte ich im Übrigen gelernt, dass das soziale Vorankommen in London langsam, quälend und frustrierend sein konnte, wenn man kein Prestige hatte. Wenn ich mit Henry unterwegs war, hatte ich manchmal den Eindruck, als könnten es alle anderen kaum erwarten, Begrüßungen und Küsschen auszutauschen, während ich in meinen besten Sachen in der Ecke stand und von den Kellnern geflissentlich ignoriert wurde.
    Inzwischen beherzigte ich Tahirs Worte und mischte mich ohne Scham in jedes Gespräch ein. Ich war nicht mehr so schüchtern wie früher und versuchte ab und zu, eine Kellnerin aufzureißen, denn die Bediensteten waren immer wesentlich attraktiver als die Partygäste und ganz bestimmt besser gekleidet. Am schlimmsten waren die Dinnerpartys, bei denen ich regelmäßig neben den vernachlässigten Frauen stellvertretender Verlagschefs in der Falle saß, während alle anderen Gäste hochzufrieden mit ihren Busenfreunden oder größten Fans zusammenhockten.
    Seit seinem Abschluss in Cambridge hatte Henry am Theater gearbeitet, und er hatte eigentlich keine Erfahrung darin, auf beißende Art herablassend zu sein. Ja, er glaubte sogar, dass eine solche Herablassung gar nicht existierte. Andererseits gab es Leute wie Angela Carter, die sehr offen waren, die Namen von Menschen behielten, denen sie nur ein einziges Mal begegnet waren, und die soziale Welt Londons nicht für eine brutale Version von Mensch ärgere dich nicht hielten. Henrys Frau, Valerie, nahm mich nach dem Beginn unserer Freundschaft kaum wahr, obwohl ich oft in ihrem Haus zu Besuch war. Ich hatte den Eindruck, als würde sie nicht ganz begreifen, wer ich war und warum ich dort war. Sie war seit langem für das berühmt, was man in London den »entzückten Blick« nannte. Einen Ellbogen auf den Tisch und das Kinn auf die Hand gestützt, konnte sie einem endlos lange in die Augen schauen, ohne mit der Wimper zu zucken, als wäre man das Faszinierendste auf der ganzen Welt. Angebern oder Angsthasen bot dies Anlass zu langen Monologen, doch bei unsicheren Menschen konnte es zum kompletten Zusammenbruch oder wenigstens zu schweren Selbstzweifeln führen.
    Erst als ein prominenter Kritiker im Observer mein Buch Sechs Personen auf der Suche nach Heilung , meine erste Veröffentlichung, gut besprach, weiteten sich ihre Augen bei meinem Anblick, und sie rauschte auf mich zu, ergriff mich bei den Schultern, zog mit ihren Lippen blassrosa Schlieren über meine Wangen und nannte mich »Darling, Darling, Darling«. Damit war ich wahrgenommen worden und hatte die Eintrittskarte in der Tasche. Man konnte mich nicht mehr hinauswerfen.
    Dieses plötzliche Umkippen ihrer Emotionen irritierte mich in keiner Weise, und ich wage zu bezweifeln, dass sie sich je die Mühe gemacht hatte, einen Blick in mein Buch zu werfen. Sie schluckte Prozac. Für sie war Freud genauso passe wie der Surrealismus oder die Zwölf-Tonnen-Waage. Aber das Buch dekorierte immerhin mehrere Wochen an prominenter Stelle ihren Wohnzimmertisch.
    Sechs Personen hatte sich, wie mein Verleger es ausdrückte, »für ein solches Buch« recht gut verkauft, vor allem als Taschenbuch. Angeblich hatte es sogar auf dem Markt für Ratgeber eingeschlagen. Ein Großteil der Leser schien der Hilfe zu bedürfen. Offenbar wollten die Leute ihren Geist genauso trainieren wie ihren Körper; sie verwechselten das Gehirn mit einem Muskel und

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