Das sag ich dir
London zu sein. Während Henry die Sache sacken ließ und überlegte, ob die Zeit reif dafür sei, dass Genet »unsere Welt wieder betrat« (er hielt die Zeit noch nicht für gekommen), machte er mich zu seinem Freund.
Ich drücke das so aus, weil diese Freundschaft gleichsam über mich hereinbrach. Wenn Henry jemanden wirklich mochte, ging er in die Vollen. Dann war er leidenschaftlich. Er rief mich mehrmals am Tag an, und wenn er über etwas reden musste, schneite er uneingeladen herein. Zwei- oder dreimal pro Woche verabredete er sich irgendwo mit mir.
Wenn ich Josephine ihre Trägheit vorwarf, wozu ich oft Gelegenheit hatte, wies sie mich gern darauf hin, dass Leute wie Henry weniger arbeiteten, sondern vielmehr beim Essen über ihre Arbeit redeten. Für solche Leute - in London auch die »schwatzende Schicht« genannt - bestand das Leben aus einem Reigen von zeitigen Frühstücken, späten Frühstücken, von Lunch, Teestunde und Dinner, aus einem Häppchen zwischendurch und weiteren Mahlzeiten zu später Stunde, und all das in den neuen Londoner Restaurants, die wie Pilze aus dem Boden schössen. Ich fand das großartig. Henrys Unternehmungsgeist gefiel mir. Außerdem brauchte er mich nicht als Spiegel seiner eigenen Persönlichkeit. Stattdessen ergänzten wir einander.
Wie ich bald herausfinden sollte, stand seine Frau, Valerie, von der er zwar getrennt war, mit der er jedoch regelmäßig Kontakt hatte, dem Kern der zahlreichen Gruppen, Cliquen, Freundeskreise, Familien und Dynastien Westlondons sehr nahe, die sich alle überlappten und untereinander heirateten, sich stetig erweiterten und gemeinsam eine endlose Folge von Partys, Wochenenden auf dem Land, Preisverleihungen, Skandalen, Selbstmorden und Urlaubsreisen absolvierten. Der Nachwuchs ging gemeinsam zur Schule, machte später gemeinsam Entzug, und noch später ehelichte man untereinander. Andere stellten sich gegenseitig ein, und ihre Kinder spielten zusammen.
Valerie stammte aus einer Familie, die seit mindestens hundert Jahren reich und angesehen gewesen war. Gelehrte, Kunstsammler, Professoren und Zeitungsherausgeber waren aus ihr hervorgegangen. Wenn es um ein völlig zugedröhntes schwarzes Schaf ging, sagte Henry immer: »Ach, ja, das ist Valeries angeheirateter Cousin zweiten Grades. Halt lieber die Klappe, sonst verdirbst du noch jemandem den Heiligen Abend.«
Er fügte hinzu: »Diese Familie ist so allgegenwärtig und verzweigt, dass ich sie als überdehnt bezeichnen würde.«
Valeries Familie war nicht nur wohlhabend, sondern hatte auch jede Menge soziales Kapital. Durch Freundschaft und Heirat war sie mit zahlreichen Guinnesses, Rothschilds und Freuds verbandelt. Das Wohnzimmer schmückte sich unter anderem mit einer Zeichnung von Lucian Freud, einem Porträt Valeries und Henrys von Hockney, einem Spot Painting von Hirst, einem Bruce McClean, einer netten Kleinigkeit von Antony Gormley und außerdem mit vielen alten und interessanten Dingen, über deren Geschichte man nachsinnen konnte, wenn man sie betrachtete oder zur Hand nahm. Das Haus war ein Familienmuseum oder glich, um eine andere Metapher zu bemühen, einem Körper, übersät von Beulen und Narben und gezeichnet von den Spuren der Vergangenheit, die jede neue Generation mitschleppen musste.
Henrys Truppe besuchte fast jeden Abend irgendeinen Umtrunk und aß danach im Restaurant. Das kostete richtig viel Geld - die Kleider, das Essen, die Drogen, Drinks und Taxifahrten. Aber Geld spielte für diese Leute keine Rolle. »Das ist ja wie ein Roman von Evelyn Waugh!«, sagte Lisa, die sich nach einer ersten Begegnung größte Mühe gab, diesen Leuten aus dem Weg zu gehen. »Ah! Er ist einer meiner Lieblingsautoren«, erwiderte Henry. Man konnte dieser Truppe von Künstlern, Regisseuren, Produzenten, Architekten, Therapeuten, Popstars und Modedesignern zwar so manchen Vorwurf machen, aber auf keinen Fall den, träge oder unliberal zu sein.
Das war ein Privileg, und Henry war sich dessen bewusst. Abbüßen konnte man es nur durch Arbeit, und genau das taten die meisten. Langweilig waren sie nicht. Henry kannte sie einfach zu gut und behauptete, auf einer Party in Rio oder Marrakesch könnte man die gleichen Gesichter sehen und das gleiche Gefühl von Klaustrophobie und Déjà-vu haben wie wenn man in Urlaub fahre oder irgendeine Kunstmesse oder ein beliebiges Filmfestival besuche. Wenn er zu einem Dinner, einer Party oder Vernissage wollte, nahm er deshalb im Taxi gern einen neuen
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