Das Sakrament
einem Posten, an dem ihn der sichere Tod erwartete. In allen Höhen und Tiefen der vergangenen Wochen hatte Tannhäuser sich nie der Verzweiflung ergeben. Nun aber überkam sie ihn. Er wandte sich vom Wasser zurück.
Barfuß und mit wild um die Schultern wehendem Haar kam Carla angerannt. Sie sah sein Gesicht und blieb wie angewurzelt stehen. Es war Tannhäuser, als hätte er ihr Herz durchbohrt.
P FINGSTSONNTAG , 10. J UNI 1565
Am Schrein Unserer Lieben Frau von Philermo – In der Herberge von England – Im Kastell St. Angelo
Die Ikone Unserer Lieben Frau von Philermo hing in einer Kapelle der Kirche San Lorenzo. Neben der Hand des heiligen Johannes des Täufers verehrten die Ordensritter diese Ikone als ihre heiligste Reliquie. Der heilige Lukas hatte sie gemalt, behaupteten manche, und ein Wunder hatte sie auf den Meereswellen nachRhodos gespült. Als Suleiman Rhodos eroberte, hatten die überlebenden Ritter die Ikone mitgenommen. Das Gesicht der Madonna war schlicht, beinahe ohne jeden Ausdruck, und doch lag in ihren Augen der Kummer der ganzen Welt. Berichten zufolge hatte das Bildnis schon echte Tränen geweint. Außerdem wurden der Madonna zahlreiche Wunder zugeschrieben.
Carla kniete vor der Ikone und betete – wenn schon nicht um ein Wunder, dann um geistigen Beistand. An diesem Tag, an dem der Heilige Geist über die Apostel herabgekommen war, konnte sie doch vielleicht darauf hoffen. Draußen war es noch tiefe Nacht, und die Kirche war menschenleer.
»Das Schicksal hat sich gegen uns verschworen«, hatte Mattias zu ihr gesagt, als sie fassungslos am Kai stand. »Laßt mich Euch nach Italien zurückbringen. Hierzubleiben bedeutet zu sterben. Laßt diese Angelegenheit hinter Euch, und fangt ein neues Leben an.«
Carla hatte versprochen, ihm bis zum Morgen eine Antwort zu geben. Sie war auf der Suche nach Beistand zum Schrein von Philermo gekommen, doch war sie immer noch benommen von dem Wissen, daß Orlandu ihr Sohn war. Obwohl sie ihn stundenlang angesehen hatte, hatte sie ihr eigenes Fleisch und Blut nicht erkannt. Sie hatte zugelassen, daß er ihr wieder durch die Finger schlüpfte und in den sicheren Tod ging.
Sie zweifelte nicht an seiner Identität. Ruggieros Erzählung von der Taufe, den Brief von Pater Bernadotti, diese Beweise hatte sie nicht mehr gebraucht. Sie hatte sich zu dem Jungen hingezogen gefühlt, hatte sich sofort für ihn erwärmt, doch hatte sie das nur seinem jungenhaften Charme zugeschrieben, seiner Freundschaft mit Amparo, der Allgewalt der Liebe Christi, die ihre Seele im Heiligen Hospital erfüllt hatte. In all dem hatte sie keinerlei mütterliches Erkennen verspürt. Was hatte sie denn auch erwartet? Daß sie Stiche und Krämpfe in ihrem Schoß verspüren würde? Daß ihr Sohn einen Heiligenschein um den Kopf tragen würde? Sie war keine Mutter. Sie hatte ihn nicht einmal gestillt. Wie konnte sie annehmen, daß sie ihn erkennen würde? Charmant warer gewesen, aber auch schmutzig und ungehobelt, ein barfüßiger Bursche, der sich brüstete, viele Hunde getötet zu haben. Ihr anerzogener Sinn für die eigene gesellschaftliche Stellung hatte sie blind gemacht und ihr das Herz verschlossen. Es war der Fluch ihrer adeligen Herkunft. Sie dachte an ihren Vater Don Ignacio. Mattias hatte ihn gesehen.
»Euer Vater bittet Euch um Vergebung dafür, daß er Euer Kind gestohlen hat«, sagte Mattias, »und dafür, daß er den Jungen zu einem so niedrigen Leben verurteilt hat. Die bitterste Reue zeigte er aber darüber, daß er Euch eine so schreckliche Grausamkeit antat. Wenn ich ihn zitieren darf: Ich liebte sie mehr als jedes andere Lebewesen auf Erden .«
Darüber hatte Carla geweint. Der Gedanke an den Haß ihres Vaters war ihr wie eine schmerzliche Wunde gewesen.
»Don Ignacio lag im Sterben«, sagte Mattias. »Als ich ihn verließ, hatte er nur noch wenige Stunden zu leben. Der Priester war bei ihm. Es war Eurem Vater ein großer Trost, daß Ihr zurückgekehrt seid. Ich war so frei, ihm zu sagen, daß Ihr noch immer Zuneigung und Respekt für ihn hegt und daß ihm Eure Vergebung bereits jetzt gewiß sei. Dafür segnete er mich. Vielleicht habe ich nicht Eure Meinung gesagt, aber ein Sterbender verdient Mitgefühl, wie grausam er auch gesündigt haben mag.«
Carla weinte wieder vor der Ikone – voller Liebe für Tannhäusers Freundlichkeit, voller Trauer über den Tod ihres Vaters und voller Sorge um Orlandu. Sie spürte, daß jemand zu einem Seiteneingang der Kapelle
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