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Das Sakrament

Das Sakrament

Titel: Das Sakrament Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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Kinder der Stadt begriffen, daß man besser nicht versuchen sollte, diese Kugeln zu fangen.
    Hätten sie nicht ihren Glauben gehabt, der sie tröstete, hätten die Bürger und Soldaten schon längst ihren Lebensmut verloren. Auf La Valettes Befehl wurde ein beinahe ununterbrochener Reigen von heiligen Riten aufrechterhalten. Beerdigungen feierteman mit großem Pomp. Requiem-Messen, Segnungen, Novenen, Vigilien und öffentliche Prozessionen waren alltäglich geworden. Seltene Ikonen und Reliquien wurden zur Verehrung ausgestellt und wieder weggeschlossen. Die Festtage von Heiligen, die sogar den Frömmsten kaum bekannt waren, wurden feierlich verkündet und begangen. Mit besonderer Freude wurden eine Handvoll Taufen und sogar drei Hochzeiten gefeiert. Durch diese Feste und durch ihre Tapferkeit, ihren Mut und die Freundlichkeit, die sie einander erwiesen, knüpften die Menschen ein enges Band, das sie verband, doch es fesselte sie noch etwas aneinander: ihr unbändiger Haß auf die Moslems, die sie für von Natur aus mörderisch, verräterisch und grausam hielten. Auf die zweitausend Galeerensklaven des Ordens, von denen die meisten unter ständigem türkischen Beschuß die Mauern zu reparieren versuchten, entlud sich dieser Haß. Willkürliche Grausamkeiten, mit denen man diese Sklaven quälte, blieben unbestraft. Als eine türkische Kanonenkugel eine Reihe von Frauen zerfetzt hatte, die vor der Ausgabe für Lebensmittel Schlange standen, hatte man Dutzende von Sklaven getötet. Wenn Nicodemus sich vor das Haus wagte, wurde er wie ein Pestkranker behandelt, sogar in der Kirche. Mit einem Gefühl brennender Scham ging Carla an den Sklaven, ausgemergelten Gestalten mit gehetzten Gesichtern, vorbei.
    »Ihr könnt nichts dagegen tun«, hatte ihr Pater Lazaro gesagt. »Der Krieg macht aus uns allen schlimme Sünder.«
    Zweiundsiebzig Tage waren bereits vergangen, seit man den alten Puppenspieler aufgehängt hatte. Alle hatten ein wenig den Verstand verloren. Furchtsam und schlaflos suchten sie nachts in Kellern und Tunneln Zuflucht und duckten sich bei Tag vor dem Musketenfeuer und den Pfeilen in den Schutt. Die Bevölkerung war am Rande der Verzweiflung. Manch einer hoffte sogar auf den nächsten türkischen Angriff, dann würde wenigsten die zermürbende Monotonie ein Ende finden. Carla gehörte nicht zu denen, die so dachten. Sie hatte nicht vergessen, wie es nach dem Angriff auf St. Michael gewesen war.Nach der Schlacht waren die Verwundeten angekommen, als man endlich die Bootsbrücke für die Verletzten freigegeben hatte. Bis dahin hatten Wachen auf der anderen Seite der Bucht die Schar der Verwundeten, die seit dem frühen Morgen zu einer großen Menschenmenge angewachsen war, mit Waffengewalt in Schach gehalten. Fra Lazaro hatte drei der jüdischen Ärzte aus der Stadt herübergeschickt, die helfen sollten, so gut sie konnten. Begleitet vom Lärm der Schlacht, die in kaum dreihundert Schritt Entfernung tobte, hatten die Juden wie Engel gewirkt. Carla war nicht die einzige gewesen, die ihre Dienste angeboten hatte, doch Lazaro, der ahnte, was noch auf sie zukommen würde, hatte sich geweigert, das Leben seiner Leute aufs Spiel zu setzen.
    Das Ausmaß dessen, was dann über sie hereinbrach, hatte jedoch selbst Lazaro bestürzt. Zunächst ließ man die Ritter herüber, eine Ungerechtigkeit, die alle als den gewöhnlichen Lauf der Welt akzeptierten. Dann strömte ein Zug panischer Menschen über die Brücke, den die Generalprofosse vergebens einzudämmen versuchten. Verletzte rutschten zwischen den Booten durch die Seile in die Bucht und ertranken. Andere kamen in den Booten zu Fall. Wieder andere wurden zu Tode getrampelt. Vom Birgu-Ende der Bootsbrücke trugen Städter die Verwundeten auf Decken und Tragbahren zum Hospital. Wer noch genug Kraft hatte, humpelte oder kroch hinterher. Viele starben auf dem Weg.
    Das Heilige Hospital war das beste Krankenhaus der Welt – die Ritter des heiligen Johannes von Jerusalem hatten es dazu gemacht. Mit zweihundert Betten war es auch eines der größten. Schlachten von ungeheurem Ausmaß waren an sich nichts Neues, doch im allgemeinen überließ man die Verletzten ihrem Schicksal. Es hatte nie eine Institution gegeben, die je versucht hätte, mit einer solchen Anzahl von Verwundeten fertig zu werden. Sie alle retten zu wollen war ein wahnwitziges Unterfangen, das seinen Grund im festen Glauben haben konnte, aber die Hospitaler versuchten es – und sie wurden vom Ansturm der

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