Das Sakrament
aber er hatte den Mut, zu seinen Überzeugungen zu stehen. Seine Aufrichtigkeit rührte sie an. Dann war sie eben eine Närrin. Unbewußt hob sie ihm ihr Gesicht entgegen, und er küßte sie. Er drückte sie eng an sich, hob sie auf die Zehenspitzen, und sie spürte seine Begierde, als er sich gegen sie drängte. Das plötzliche Verlangen, sich ihm hier, auf dieser Gasse hinzugeben, flutete über sie hinweg. All ihre Instinkte wehrten sich dagegen, doch sein Mund glühte heiß an ihrem Hals, und seine Hände umspannten ihre Taille. Ein Krieg tobte in ihrer Brust. Ich werde mir dies nicht aus Furcht oder Frömmelei versagen , sagte eine Stimme in ihr, aber sie hörte auch die Stimme der Vernunft. Sie durfte ihre Leidenschaft nicht mitten auf dieser Gasse ausleben wie eine Hure. Mit großer Anstrengung schob sie ihn zurück. Er verstand sie sofort, und obwohl die Lust aus seinen Augen sprach, bedrängte er sie nicht weiter.
Sie sagte: »Bis dahin wollen wir die Dinge so belassen, wie sie sind.«
»Verzeiht mir«, erwiderte er mit rauher Stimme. »Der Wind trägt heute wohl den Wahnsinn mit sich.« Er schenkte ihr ein wehmütiges Lächeln. »In dieser Sache jedenfalls seid Ihr klüger als ich.« Er schaute zum Ende der Gasse und zum Vorplatz des Hospitals. »Gut, daß Ihr beinahe zu Hause seid. Auf mich warten dringende Geschäfte. Also sage ich Euch Lebewohl.«
Ein vager Verdacht beschlich Carla. »Was für dringende Geschäfte?«
»Militärische Angelegenheiten.«
Carla spürte die gleiche Kaltblütigkeit in seiner Antwort wie damals auf der Straße nach Syrakus, ehe er den Priester getötet hatte. Sie begriff, daß er nicht die geringste Absicht hatte, ihr mehr zu erklären. Ohne jede Warnung zog er sein schmutziges Tuch aus dem Ärmel und wischte ihr über den Nacken.
»Ich habe Euch besudelt«, meinte er.
Dann sah sie ihm nach, wie er auf die Front zurannte.
Carla fand Amparo im Bett schlafend vor und legte sich neben sie. Das Mädchen regte sich im Schlaf. Carla nahm sie in die Arme. Sie verspürte keine Schuld, denn ihr Herz war zu voll von Liebe. Sie dankte Gott für die Freundschaft, mit der sie so reich beschenkt wurde. Sie betete zu Jesus, er möge Verständnis haben, wenn sie sich auch nicht sicher war, wofür genau. Gewiß konnte doch inmitten von so viel Elend und Krieg jede Art von Liebe keine Sünde sein, selbst die Ludovicos zu ihr. Carla betete für Mattias und Amparo. Sie betete für Orlandu und schließlich für Ludovico, daß sein Wahn und seine Schmerz geheilt werden möge. Dann sank sie in einen tiefen Schlaf.
Der nächtliche Angriff auf die Mauern war beim ersten Morgenlicht abgeebbt. Viele Tote und Verwundete waren zu beklagen. Als Carla aufwachte, war Amparo bereits fort. Mit ihrer Tasche voller Verbandsmaterial wagte Carla sich hinaus, um zu helfen, wo sie konnte. Kinder sahen ihr mit den leeren Gesichtern nach, von denen Mattias gesprochen hatte. Ritter und Soldaten taumeltenverwirrt zwischen den qualmenden Ruinen umher wie Engel, die man aus dem Paradies vertrieben hat und die nun in der Hölle angekommen waren. Die Sonne stieg nur langsam am Himmel auf, als werfe sie ihr Licht höchst ungern auf all die Schrecken. Geier stießen herab und ließen sich völlig ungerührt auf den unzähligen Kadavern nieder.
Von Lazaro erfuhr Carla, daß während der Nacht Fra Ludovico und sein Schildträger Anacleto von Crato durch Musketenfeuer niedergestreckt worden waren. Beide lebten noch und lagen im italienischen Hospital.
Carla hatte jedoch keinerlei Zweifel, wer hinter diesem Zwischenfall steckte. Während sie tief und fest geschlafen hatte, war Mattias losgezogen, um seine militärischen Angelegenheiten zu regeln. Sie hatte jedoch keine Zeit, Genaueres in Erfahrung zu bringen, denn als die Sonne sich über den Monte Salvatore erhob, griffen die Türken wieder an.
Belagerungskanonen brüllten von den Anhöhen. Trompeten und die Stimmen der Imame erklangen. Unter furchterregendem Getöse, begleitet vom Knallen der Peitschen und dem angstvollen Geschrei ihrer schwarzen Sklaven, schleppten die Moslems von der Straße nach Marsaxlokk einen Belagerungsturm von beängstigenden Ausmaßen heran.
Carla wurde beim Anblick dieses Ungetüms von einem Schwindelgefühl ergriffen. Der Wahnsinn schien mit jedem Tag zuzunehmen. Sie blickte in die Gesichter der Verteidiger. Verzweiflung zeichnete sich auf den Gesichtern der Christen ab, und doch erhoben sie sich alle, Männer wie Frauen, aus den Ruinen,
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