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Das Sakrament

Das Sakrament

Titel: Das Sakrament Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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Gefährten etwas zu, als wollte er ihn aufhalten. »Anacleto!«
    Diese Anstrengung ließ ihn erneut in einem Krampf zusammensacken. Anacleto hörte nicht auf ihn. Orlandu spürte die finstere Wut, die plötzlich über die wüste Ebene zu brausen schien, und er wünschte sich nichts mehr, als daß Tannhäuser unversehrt aus diesem Kampf hervorgehen würde. Doch welche Rätsel es auch noch zu lösen galt, der tapfere Ritter an seiner Seite brauchte einen Chirurgen. Er wollte Ludovicos Zügel wieder ergreifen.
    »Nein«, befahl Ludovico.
    Orlandu sagte nur: »Fra Lazaro.«
    »Nein«, erwiderte Ludovico. »Mir kann kein Chirurg mehr helfen, aber meine Ehre kann ich sehr wohl noch retten.«
    Ludovico nahm die Zügel wieder in die eigenen Hände, wandtesein Pferd um und bedeutete Orlandu mit einer Kopfbewegung, es ihm nachzutun. Sie beobachteten, wie Tannhäuser auf seinem goldenen Pferd herangesprengt kam. Anacleto ritt mit gezücktem Schwert auf ihn zu.
    »Gott weiß alles«, sagte Ludovico. »Über alle Dinge, die jetzt sind und die je waren und die je sein werden. Trotzdem können wir den göttlichen Willen niemals auch nur annähernd kennen, und jeder Mensch zeichnet die Landkarte seines Lebens mit eigener, freier Hand.«
    Ludovico schaute zu Orlandu, und der Junge blickte in die unendlich tiefen Augen zurück. Der Schmerz, den er daraus ablas, war so ungeheuerlich, daß er in sich all den sinnlosen Schmerz aufzunehmen schien, der ringsum auf dieser verzweifelten Insel angehäuft war.
    Ludovico holte Luft und fuhr fort: »Die Gelehrten nennen dieses Paradox ›das verborgene Mysterium‹, und auf derlei Fragen antwortet der heilige Augustinus: Inscrutabilia sunt judicia Dei .«
    »Sire?«
    »Die Ratschlüsse Gottes sind unergründlich.«
    Ludovico wandte sich wieder der Ebene zu, und Orlandu folgte seinem Beispiel. Sie sahen, wie Tannhäuser die Arme kreisend um den Kopf führte, dann blitzte die Sonne bläulich vom Lauf seines Gewehrs. Sie sahen Rauch und eine Flamme aus der Mündung schießen. Anacleto fiel rücklings aus dem Sattel. Erst dann hörten sie den Schuß und sein Echo über das Ödland wehen. Sie beobachteten, wie Tannhäuser den Gewehrlauf aufrecht hielt und eine Pulverflasche in die Mündung rammte. Anacleto rollte sich auf den Bauch und kämpfte sich auf die Knie hoch. Tannhäuser schob eine Kugel in den Lauf, legte sich das geladene Gewehr über die Oberschenkel und zog sein Schwert. Er führte das goldene Pferd vorwärts. Dann konnten sie sehen, wie das Schwert aufblitzte, als es sich hob und senkte. Anacleto fiel nach vorn. Etwas rollte von seiner Schulter und blieb im Staub liegen.
    Mit einer seltsamen Befriedigung, die Orlandu kalte Schauer über den Rücken jagte, sagte Ludovico: »Und damit endet dieLandkarte meines Lebens. Doch selbst während er das Ende schreibt, kann ein Mann noch diesen oder jenen Weg einschlagen. Vielleicht gerade an seinem Ende am allermeisten.«
    Als Tannhäuser Anacleto den Berghang hinunter auf sich zureiten sah, merkte er, daß er keinen Haß und keine Wut mehr empfand. Er hatte sich vorgestellt, daß er den jungen Mann in Stücke reißen würde, seine Qualen so lang wie möglich ausdehnen würde. Jetzt wollte er es nur hinter sich bringen. Er nahm sein Gewehr von der Schulter und schoß auf ihn, und die Kugel krachte, als sie Anacleto durch die Brustplatte schlug. Tannhäuser lud das Gewehr nach, drehte den Schlüssel im Radschloß fest, lud Pulver auf die Zündpfanne und schloß sie. Dann zog er sein Schwert, und als er an dem knienden Schurken vorbeikam, streckte er ihn nieder, ohne ihm auch nur ins Gesicht zu sehen. Er steckte das Schwert wieder in die Scheide, schaute dann wieder zu der Anhöhe, wo sich die beiden Silhouetten gegen den azurblauen Himmel abzeichneten. Der Mann und der Junge. Vater und Sohn. Tannhäuser stützte das Gewehr auf die Hüfte. Dann ritt er den Hang hinauf, um den einen vor den Augen des anderen zu töten.
    Als er ankam, sah er, daß es zu keinem Waffengang kommen würde.
    Es war nicht der Anblick des Einschlaglochs mitten in der Rüstung des Mönchs, sondern eher der Ausdruck auf dem bleichen Gesicht, das Glitzern seiner tiefliegenden Augen, ein Glitzern wie bei manchen Sternen, die verschwunden sind, wenn man einmal kurz weggeschaut hat.
    »Ich habe Orlandu gebeten, in Birgu auf uns zu warten«, sagte Ludovico. »Aber er wollte nicht fortgehen, ohne Euch begrüßt zu haben.«
    Tannhäuser schaute Orlandu an. Zum erstenmal seit einer

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