Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
was ihnen der Eremit in der vergangenen Nacht erzählt hatte. Aber etwas war geblieben. Er fühlte eine neue Kraft in sich und ein starkes Vertrauen in den Allmächtigen Baumeister der Welten.
Er hatte eine Aufgabe!
Durch den Tod des Eremiten war er selbst zum Logenmeister aufgestiegen. Er kannte alle Geheimnisse der Handwerker, der Gilden und der Tempelherren. Meister Albrecht hatte ihm gesagt, wie er Gruß , Handzeichen und Wortzeichen anwenden mußte. Er hatte ihn in die Geheimnisse der gotischen Kathedralen eingewiesen und ihm die Alten Pflichten erläutert:
»Alles tun , was Leben erhält , fördert oder schützt - alles vermeiden in Wort , Tat oder Gebärde , was Leben vernichtet , einschränkt oder verunstaltet!«
Er hatte in dieser Nacht gelernt, wie Weisheit, Stärke und Schönheit zur Harmonie vereint werden konnten. Paßwort und Paßgriff waren keine geheimnisvollen Bezeichnungen mehr für ihn. Er wußte nun, was mit dem Winkelmaß gemeint war.
Die gotischen Kathedralen waren ein genialer Versuch der Eingeweihten gewesen, dem Ideal der Harmonie näherzukommen. Sie hatten sie dem Himmel entgegengebaut, obwohl sie wußten, daß sie ihn mit aufeinandergesetzten Steinblöcken niemals erreichen konnten.
Seit dem Turmbau zu Babel und den Pyramiden hatten die Esoteriker immer wieder nach neuen Wegen gesucht, um das Vergängliche des Daseins zu überwinden.
Fast wäre es gelungen mit den himmelwärts strebenden, vielfach durch kunstvolle Verzierungen nach außen hin getarnten Riesenbauten.
Aber nur fast! Denn jene, die das Werk vollenden sollten, hatten in gotischen Kathedralen nur noch gewaltig aufragende Kirchen gesehen.
Sie hatten einfach weitergebaut - ohne zu wissen, worum es wirklich ging!
Das war der eigentliche historische und tragische Fehler der Menschen zu Beginn des Mittelalters gewesen. Sie hätten alles haben können: den Frieden, die Harmonie und den Glauben an sich selbst, als Teil des Universums.
Seit der Erschaffung des Regenbogens, mit dem Gott Noah das Versprechen gab, nie wieder die Kreaturen der Erde durch eine Sintflut auszulöschen, hatte es niemals mehr eine ähnliche Chance gegeben, die Vertreibung aus dem Paradies aufzuheben.
Die Erben der ersten Kathedralen-Baumeister ahnten noch, daß es die großen, tieferen Geheimnisse gab. Sie ließen weiter Stein auf Stein setzen, doch sie begannen, das Äußere zu bewundern und machten dadurch allein das Sichtbare zum Wertmaßstab für nachfolgende Geschlechter.
Es waren diese Wurzeln, die den Keim des Untergangs hervorbrachten.
Guntram verstand plötzlich den Versuch seines Urahns, der drohenden Entwicklung entgegenzutreten. Roland hatte seine eigenen Kinder bewußt isoliert - wie in einer steingewordenen Arche unter dem Dach der Kathedrale. Er hatte für Jahrhunderte geplant, bis zu den letzten Tagen einer verlorenen Menschheit ...
Guntram näherte sich dem Großen Buch.
Die gläserne Lade mit dem aufgeschlagenen, schweinsledern eingebundenen Buch leuchtete in einem überirdischen Licht. Erst jetzt entdeckte Guntram schmale, weißblau glühende Streifen an den Seitenwänden der Lade. Sie schimmerten wie morsches, feuchtes Holz aus dem Irrlichtmoor.
Er erinnerte sich an Abende, an denen das Leuchten aus dem Buch-Heim die Gespräche unter der Dorflinde verstummen ließ. An diesen Abenden hielten Mütter ihre Kinder fest, die Mädchen hörten auf zu singen und selbst die mutigsten der Burschen stellten ihre Spiele ein.
Lichtnachten im Sakriversum.
Wie lange war das her?
Guntram blickte auf die vielen fremdartig wirkenden Zeichen auf den Seiten des Großen Buches.
Und dann erkannte er das Geheimnis ...
Er hatte nach Kreisen gesucht, nach Symbolen der Vollendung, doch dann rührte eine winzige Konfiguration an seine Seele. Das kleine Bild bestand aus drei kaum sichtbaren Punkten, die zu einem Dreieck angeordnet waren.
Der erste Punkt symbolisierte die subjektive Wahrheit, der zweite die objektive. Doch erst der dritte Punkt überhöhte sie beide!
These - Antithese - Synthese ...
Die Dreieinigkeit der Dinge war das Zeichen der vollkommenen, gottgleichen Reife! Es ging nicht nur um Positionen wie Ja oder Nein, Gut oder Böse, Geist oder Materie!
Alles war eins, denn alles war richtig - jedes zu seiner Zeit und jedes an seinem Platz.
Der kleinste Krümel Stofflichkeit und selbst ein armseliger Gedanke enthielt die gesamte Weisheit des Universums! Nichts war zu groß, nichts zu bescheiden.
Man mußte es nur achten und daran
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