Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
einen schmuddeligen Stoffbeutel.
»Einmal ziehen - er steht auf; dreimal ziehen - er kommt auf das Dorf zu ...«
Lello scheuchte Bronco mit einer Handbewegung fort. Der ehemalige Fänger der Artistengruppe verschwand unter den Bäumen des Eichbergs. Unweit der Stelle, an der er die vergangene Nacht mit seiner Halbschwester verbracht hatte, setzte sich Lello auf einen bemoosten Baumstamm. Er nahm einen Streifen Trockenfleisch aus seinem Tragebeutel und kaute ihn weich.
Wie gern hätte er jetzt seine Klampfe in den Händen gehabt! Ein paar Akkorde nur - gegen die Angst, die Dunkelheit und die ungewisse Zukunft ...
22. KAPITEL
»Ich muß jetzt gehen«, sagte Guntram. Goetz nickte.
»Wann sehe ich dich wieder?«
»Du kannst mich jede Nacht von Samstag auf Sonntag im Buch-Heim erreichen. Was zwischendurch kommt, weiß ich nicht.«
»Könnten wir nicht ein Signal vereinbaren?«
»Die Glocken«, sagte Guntram. »Wenn ich dich brauche, könnte ich Steinbrocken an Seilen gegen die Glocken in den Türmen fallen lassen.«
»Meinst du, ich höre das?«
»Zu leise?«
Goetz nickte. Guntram schloß die Augen. Er dachte intensiv nach, dann schnippte er mit den Fingern.
»Wir brauchen ein Geräusch, das du sofort erkennst, auch wenn es leise klingt!«
»Stimmt«, nickte Goetz.
»Das Motorrad«, sagte Guntram. »Wir haben ein Motorrad von der Artisten-Truppe.«
»Das habe ich sogar in der Altstadt gehört ...«
»Also gut! Wenn Jan sein Motorrad startet, mußt du sofort kommen. Ansonsten schlage ich vor, daß wir uns jeweils um Mitternacht über die Rohre unterhalten, die das Buch-Heim mit den Beichtstühlen unten in der Kathedrale verbinden.«
Sie hatten sich alles gesagt: alles, was sie über die letzten Wochen wußten. Aber es würden noch Jahre vergehen, ehe sie sich wirklich kennengelernt hatten ...
»Mach’s gut, Logenmeister«, sagte Goetz lächelnd und stand ganz langsam auf. Er wollte Guntram nicht durch hastige Bewegungen erschrecken. Im gleichen Augenblick fiel Sonnenlicht durch Hunderte von winzigen Öffnungen im Dach. Es war, als würde jemand winzige Lukendeckel vor ebenso kleinen Fensterchen zurückziehen.
Das Strahlenbündel aus warmem Licht fiel auf einen Fleck ungefähr dort, wo die Gewölbe des Querschiffs vom Mittelschiff nach Süden führten.
Wie gebannt blickte Goetz über die Hügel und Täler hinweg. Er legte die Hand über die Augen. Kaum fünfzig, sechzig Meter entfernt erkannte er das Dorf der Schander , von dem ihm Guntram so viel erzählt hatte. Er war so fasziniert von dem einmaligen Anblick, daß er fast übersah, wie ein kleiner Bursche in panischer Angst aus dem Wald floh und über den Rübenberg hinkte.
Das war nicht Guntram!
Goetz beugte sich nach unten. Er legte seine linke Hand neben zwei kalten Feuerstellen auf den steinigen Boden. Guntram kam hinter einem Schlußstein des ersten Halbbogens hervor.
»Ich will dir etwas zeigen«, sagte Goetz. Ohne Furcht setzte sich Guntram in seine Hand. Goetz hob ihn vorsichtig hoch.
»Du bist ziemlich leicht«, sagte er verwundert.
Guntram lachte.
»Und du mußt dringend etwas für deine Haut tun. Ich werde mal mit Lea sprechen. Sie versteht sich auf jede Artzney. «
Goetz dachte plötzlich an die grauenhaften Tage nach der Katastrophe zurück. Er hatte fast vergessen, wie und warum er unter das Dach der Kathedrale gekommen war.
»Ist das dort drüben euer Dorf?«
»Ja, aber kann ich nicht auf deiner Schulter sitzen. In deiner Hand, da wackelt es zuviel ...«
Goetz trug immer noch den Jagdanzug. Er setzte Guntram so, daß er seine Beine unter die Schulterklappe auf der rechten Seite stecken und sich daran festhalten konnte.
»Besser?« fragte er und drehte den Kopf zur Seite.
»Es geht.«
Guntram zeigte auf den Lichtfleck.
»Jetzt kannst du gut erkennen, wie unser Dorf aufgebaut ist. Der große Turm in der Mitte, das ist das Buch-Heim !«
Goetz sah keinen Turm, sondern nur einen kaum erkennbaren, etwa sechzig Meter entfernten Schatten im Halbdunkel unter dem Dach der Kathedrale.
Guntram erklärte ihm die Lage der Hügel, Felder und Gehöfte, aber Goetz sah nicht mehr als einige geometrische Schattenlinien.
Trotzdem verstand er Guntram. Und plötzlich wußte er auch, warum ihm das alles nicht fremd war: er erinnerte sich an die Monitoren unten in den Kellern. Fliegende Spion-Optiken!
Er dachte eine Weile nach, dann fragte er:
»Habt ihr auch Vögel hier?«
»Natürlich: Enten, Gänse, Hühner, Tauben, aber auch
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