Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
Turmfalken, Sperlinge und Nachtigallen ...«
Goetz schüttelte vorsichtig den Kopf.
»Ich meine große Vögel.«
»Manchmal kamen aus eurer Welt große Vögel zu uns. Dann haben die Familien von Eilhart und Friedrich Seilnetze gespannt. Die Beryllos-Linsen wurden verdunkelt, meine Familie hat duftende Blütenspuren ausgelegt und Herbort hat die Kessel angeheizt. Nach der Jagd haben wir immer ein großes Fest gefeiert ...«
»Gab es nicht Vögel hier im Sakriversum, die regelmäßig und ganz langsam über das Dorf hinwegflogen?«
»Ach, die meinst du«, nickte Guntram. »Davon haben wir nie einen erlegt.«
»Warum nicht?«
»Weil es verboten ist.«
»Hm«, sagte Goetz unzufrieden. Guntrams Aussage bestätigte den Verdacht, den er schon lange hatte: Das Sakriversum war niemals eine vergessene Insel gewesen! Einige Eingeweihte hatten stets gewußt, was hier unter dem Dach der Kathedrale vorging ...
Goetz fühlte, wie es ihm kalt den Rücken herunterlief.
Damals, als die Idee der hohen, in den Himmel strebenden Kathedralen entstand, mußte auch anderwärts ein Samenkorn aufgebrochen sein: Parsival auf der Suche nach dem Heiligen Gral ... Thomas von Aquin ... Schießpulver und Raketen in China ... Tannhäuser ... Franz von Assisi ... Roger Bacon mit einer durch Muskelkraft betriebenen Flugmaschine ... Walter von der Vogelweide ... und dann die Idee vom Perpetuum mobile ...
Ein seltsames Jahrhundert!
Die Mongolen führten den größten Eroberungsfeldzug aller Zeiten. Die Kreuzfahrer verloren Akkon, ihre letzte Festung im Orient, und Edward I. vertrieb alle Juden aus England. Gleichzeitig entstanden die Magna Charta und der Sachsenspiegel. Villard de Honnecourt schrieb das Bauhüttenbuch , und in der Schweiz vereinten sich die Kantone Uri und Unterwalden zur Eidgenossenschaft.
Die Päpste in Rom übernahmen die Oberleitung der Inquisition, aber sie mußten geahnt haben, daß ihre große Zeit nach den vergeblichen Kreuzzügen zu Ende war ...
Goetz nahm Guntram von seiner Schulter und setzte ihn ab.
»Vergiß nicht, wie man Kirchentüren öffnet«, rief Guntram von unten. Goetz hob die Hände.
»Keine Angst - diesmal weiß ich, wie es geht ...«
Er drehte sich vorsichtig um und ging zum bunt leuchtenden Rosettenfenster.
Der Tag war schön. Die Sonne schien hell und warm auf die Dächer der Stadt. Ganz langsam begann Goetz mit dem Abstieg zu den Mauerbögen, die zu den Türmen führten.
Nur schade, daß dort unten in den Häusern und Straßen keine Menschen mehr lebten ...
*
Guntram sah ihm lange nach. Er stand an der Öffnung des Abendzeichens. Über den strahlend blauen Himmel zogen langsam weiße Wattewolken.
Es war sehr still.
Im Sakriversum kannten nur wenige das großartige Bild vom Draußen. Sie wußten nicht, was Wolken waren, wie schneebedeckte Berge am Horizont aussahen und wie warm eine einzige Sonne sein konnte.
Auch Guntram hatte es nicht gewußt, bis Agnes ihm eines Tages die Papierröllchen aus den hohlen Gliedern ihrer Puppe zeigte. Zuerst hatten sie nur damit gespielt. Es war ein Zufall gewesen, daß Guntram irgendwann damit begonnen hatte, die Schriftzeichen zu entziffern.
Einige Jahre später hatte er seiner Schwester das Vermächtnis ihres Vaters vorlesen und genau erklären können. Seit dieser Zeit wußte er, daß es im Draußen einen großen Himmel mit Wolken, einer einzigen Sonne und einem Mond gab ...
*
Es dauerte eine gute halbe Stunde, bis Goetz unten auf dem Vorplatz der Kathedrale erschien. Er blickte hoch und winkte mit beiden Armen. Guntram winkte ebenfalls, aber er wußte nicht, ob Goetz ihn sehen konnte.
Er drehte sich um. Nachdem er sich wieder an das Licht unterhalb des Daches gewöhnt hatte, suchte er sich ein paar Trockenfrüchte von den hastig verlassenen Lagerstellen. Er trank etwas Wasser und füllte einen Beutel mit Nahrungsresten. Dann machte er sich auf den Weg nach oben ...
Die Rebstöcke an der Teufelsmauer trugen bereits grüne Blätter. Während er weiterwanderte, hatte Guntram viel Zeit zum Nachdenken. Das Sakriversum sah wieder so friedlich aus wie in den Tagen vor der Flucht. Aber es war anders geworden, denn Fremde befanden sich im Dorf.
Als er in Höhe des Hofs von Meister Albrecht war, wandte er sich nach Norden. Er stieg an den Zisternen vorbei in das verbotene Gebiet.
Ohne zu zögern ging er durch eine schmale Öffnung in der Teufelsmauer. Diesmal hatte er keine Angst, sich zu verirren.
Vor einer hohen Steintür im Halbdunkel des Labyrinths
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