Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
erstklassiger Manager gewesen. Doch das war eine Seite der Medaille. Die andere gefiel Hector immer weniger. Seit Tagen dachte er darüber nach, wie er sich unauffällig von Corvay entfernen konnte. Er wußte, daß er nicht der einzige war, der sofort wieder nach draußen gegangen wäre. Aber er sah einfach keine Möglichkeit. Schließlich war er nicht so dumm, sich unten in der Stadt schon in den ersten Stunden die Finger an irgendwelchen strahlenverseuchten Gegenständen zu verbrennen ...
Er mußte warten. Noch hatte Llewellyn Corvay die besseren Karten. Aber eines Tages würde er Corvay alles vor die Füße werfen und gehen. Das hatte er schon seit zwölf Jahren vor. Diesmal meinte er es ernst ...
Er schnaufte mehrmals, dann senkte er den Kopf.
»Du bist der Boß«, sagte er heiser. »Wenn du willst, daß wir den toten Heiligen mitnehmen, werden wir es tun!«
Corvay lächelte kalt. Er schob die Lippen vor.
»Aber du glaubst nicht, daß es richtig ist, oder?«
»Doch, doch! Wie könnte es denn falsch sein, was du befiehlst?«
Corvay nickte zufrieden.
»Erkenntnis eines Speichelleckers!« höhnte in diesem Augenblick ein junges Mädchen, das eine Fackel trug. Sie war mit ein paar anderen über eine steile Stufe gekommen, jungen Burschen in praktischen Overalls aus denimfarbenem Jeansstoff.
»Sieh an, die Geklonten aus den Labors der Neuen Welt ...«
Hector verzog sein fleischiges, schweißglänzendes Gesicht.
»Und allen voran Nancy McGowan, Versuchsnummer 2001/Sixty-six ...«
Er trat einen Schritt zurück, hängte die Daumen in die Lederriemen, die kreuz und quer über seinen Oberkörper liefen und ihn wie einen römischen Gladiator aussehen ließen, schneuzte sich und grinste.
»Nancy McGowan! Residentin verschiedener Konzern-Geheimdienste in der Neuen Welt! Glutäugige Attraktion bei Schwarzen Messen, in denen Kinder so vollendet geschlachtet wurden wie bei Gilles de Rais, dem Grafen von Brienne ...«
Nancy warf ihre langen, blauschwarzen Haare zurück.
»Ja!« schrie sie Hector an. »Ich bin nur eine nachgemachte Zwergin! Doch du gehörst zu jenen, die über mich nur Lügen wissen!«
»Du kleine Hexe!« schnaubte Hector.
»Und du bist eine Kröte, die nur noch quakt, was Corvay will!«
Nancys Begleiter schoben sich näher. Sie bildeten einen Schutzring um ihre junge Anführerin.
Nancy senkte die Fackel wie ein flammendes Kurzschwert. Stolz und schön wie sonst niemand auf den Treppenstufen trat sie vor Llewellyn Corvay.
»Was willst du?« fragte er.
»Wann kommen wir ins Sakriversum?«
Corvay war überrascht. Mit dieser Frage hatte er nicht gerechnet.
»Die ersten von uns werden den Dachstuhl der Kathedrale in ein, zwei Tagen erreichen ...«
»Welche Seite, Sire?«
Corvay sah die aufsässige Angehörige seines Volkes plötzlich mit neuen Augen. Die Frage war gut. Sehr gut sogar, denn so genau kannte auch er die geheimen Wege nach oben nicht. Außerdem fehlte ihm der zweite Teil des Testaments ...
»Wie viele werden es schaffen?«
Nancy McGowan ließ nicht nach. Ihr schmales, klassisches Gesicht wirkte streng und kühl. Nur ihre Nasenflügel bebten leise.
Hector zog an seinem Gürtel. Er trat einen Schritt vor. Während unten die Seufzer und Schreie immer lauter wurden, stellte er sich vor Nancy McGowan.
»Was soll das sein? Ein Verhör des Königs?«
»Wir möchten nur wissen, was auf uns zukommt!«
»Das wird sich zeigen«, knurrte Corvays Berater.
Nancy drehte sich um. Sie flüsterte kurz mit ihren Begleitern.
»Wir gehen zurück«, sagte sie dann.
Es war, als hätte sie einen Kübel mit kochendem Blei über Corvay und seine Berater gegossen. Hector schnappte nach Luft. Er griff nach seinem Schwert, die anderen rechts und links neben Corvay ebenfalls. Gleichzeitig stockte der Strom der mühsam nach oben kletternden Bankerts und Schander.
Kinder weinten auf den Armen ihrer Mütter. Hohlwangige Männer lehnten sich erschöpft gegen die rauhen Mauern. Viele sackten einfach zusammen. Sie konnten nicht mehr. Selbst die besser ernährten Bankerts fühlten sich schlaff und ausgelaugt.
Nancy McGowan schleuderte ihre Fackel vor die Füße von Corvay.
»Wir wollen nicht mehr!«
»Man wird euch totschlagen, wenn ihr zurückgeht ...«
»Wer sollte das wagen?«
Nancy McGowan trat Corvay furchtlos entgegen. Der König der Bankerts tastete unwillkürlich nach dem Griff seines Kurzschwertes. In den letzten Jahren hatten die Bankerts begonnen, die neuentdeckten, mittelalterlichen Riten
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