Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
seine Pflicht, auf dem Hoftag zu erscheinen, aber sein Fehlen hätte Herzog Simon und den Kaiser verärgert. Als der Kirchenmann ausstieg, zogen sich Michel und seine Gefährten vom Flussufer zurück. Ulman würde noch früh genug erfahren, dass sie hier waren.
Die Stunden verstrichen. Während die Sonne allmählich den Vogesen entgegensank, näherte sich das Turnier seinem Finale. Zahllose Ritter waren bereits ausgeschieden und ließen am Rand der Wiese ihre Blessuren versorgen. Die wenigen, die noch übrig waren, machten sich bereit für den letzten Lanzengang. De Guillory strotzte nur so vor Selbstvertrauen, und sein Gelächter hallte über den Fluss, als er seinen Rivalen herausfordernd auf die Schultern drosch.
»Wie lange dauert das noch?«, murrte Duval, der sich gerade den dritten Becher Wein gekauft hatte.
»Habt Geduld«, sagte Michel. »Es kann sein, dass wir tagelang hier herumsitzen.« Er nahm dem Kaufmann den Becher aus der Hand und schüttete den Wein ins Gras.
»He! Was soll das?«
»Ihr hattet genug. Wollt Ihr Barbarossa betrunken wie ein Kesselflicker gegenübertreten?«
Duval murmelte einen sehr garstigen Fluch, verzichtete jedoch darauf, sich neuen Wein zu besorgen.
De Bézenne und Renouart erschienen zwischen den Zelten.
»Gute Nachrichten«, verkündete der Ritter. »Der Kaiser will Euch empfangen.«
Lachend legte Michel Nicolas die Hände auf die Schultern. »Habt Dank, mein Freund. Damit habt Ihr uns einen großen Dienst erwiesen. Wir stehen für immer in Eurer Schuld.«
»Ein letzter Rat: Wenn Ihr vor ihm steht, fasst Euch kurz. Barbarossa ist kein geduldiger Mann.«
Michel bemühte sich, seine Anspannung mit keiner Regung zu zeigen, obwohl sie ihn innerlich fast zerriss, als sie sich auf den Weg zur großen Aula machten. Hinter ihm gingen Duval und Catherine, und ihnen folgten Fabre und Jean mit der Truhe. Sie alle hatten ihre staubigen Reisekleider schon vor Stunden gegen ihre besten Gewänder, Schuhe und Hüte getauscht.
Herr, gib mir die Kraft, die richtigen Worte zu finden, betete er.
Die Wachen vor dem Portal erkundigten sich nach ihren Namen und ließen sie schließlich eintreten. Im Inneren der Aula umfing sie eine Ruhe, die in völligem Gegensatz zu dem jahrmarktartigen Trubel draußen auf den Wiesen stand. Dank seiner Säulen und der Gewölbedecke wirkte der Saal wie eine Kirche. Sonnenlicht strahlte durch die hohen Rundbogenfenster und beschien die prächtigen Wandteppiche, was diesem Ort eine würdevolle, fast sakrale Stimmung verlieh. An mehreren Tischen, umgeben von gestapelten Dokumenten, saßen die Männer der Hofkanzlei: Schreiber und Rechtsgelehrte, die im Namen des Kaisers Urkunden und Briefe aufsetzten und auf diese Weise die Macht ihres Herrn in jeden Winkel des Reiches trugen.
Und im Zentrum des Saales, auf einem Stuhl mit hoher Lehne und flankiert von seinen vier Schildknappen, thronte Friedrich Barbarossa, der Erste seines Namens, Herrscher aller Deutschen, gewählter König und gesalbter Kaiser des Heiligen Römischen Reiches. Er gebietet über Millionen von Menschen und steht auf einer Stufe mit dem Papst, dachte Michel unwillkürlich. Dabei war es nicht nötig, dass er sich Friedrichs Macht vergegenwärtigte – der Kaiser verströmte eine natürliche Autorität, die den Saal wie eine unsichtbare Kraft auszufüllen schien. Obwohl nur mittelgroß, war der Staufer trotz seiner fast siebzig Sommer immer noch eine imposante, ja Ehrfurcht gebietende Erscheinung, bedingt durch die breiten Schultern und kräftigen Arme und das ebenmäßig geschnittene Gesicht: ein Krieger, ein Ritter durch und durch. Sein einst roter Vollbart, dem er seinen Beinamen verdankte, war kurz geschnitten, ebenso das lockige Haupthaar, und auf den Stuhllehnen lagen schlanke, gepflegte Hände. Am auffälligsten jedoch waren seine Augen: Wach, klug und gebieterisch blickten sie auf die Welt herab.
Zehn Schritte vor dem Thron verbeugten sich die Kaufleute.
»Mein Herr und Gebieter«, sagte Michel fest. »Im Namen der Gilde von Varennes-Saint-Jacques danke ich Euch für die Ehre, die Ihr uns erweist.«
»Erhebt euch.« Barbarossas Stimme war dunkel und wohlklingend.
Die Kaufleute gehorchten. Catherine, Fabre, Duval und Jean standen links und rechts der Truhe; Michel trat zwei Schritte nach vorn.
»Ihr müsst Michel de Fleury sein, der Gildemeister von Varennes«, sagte der Kaiser. »Unser Gefolgsmann Nicolas spricht gut von Euch. Es heißt, Ihr seid ein kluger und umsichtiger Mann,
Weitere Kostenlose Bücher