Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
im Boden.
Isabelle warf die Tür zu.
Juni 1189
V ARENNES -S AINT -J ACQUES
S tunde um Stunde, Tag um Tag kroch an ihr vorbei. Wenn sie nicht am Fenster saß und dem Treiben auf dem Domplatz zusah, kauerte sie auf dem Boden und spielte mit dem Kreuz, das Michel ihr einst geschenkt hatte. In den Nächten schlief sie kaum, war aber auch nicht richtig wach. Jegliche Lebenskraft schien sie verlassen zu haben.
Sie fragte sich, ob Michel bereits heimgekehrt war. Endlose Stunden beobachtete sie sein Haus, doch die Einzigen, die ein und aus gingen, waren Thérese, Matenda und der neue Knecht, Foulque. Nun, er hätte ihr ohnehin nicht helfen können. Sie war auf sich allein gestellt – und konnte nicht das Geringste tun. Sollte sie des Nachts aus dem Fenster klettern? Töricht. Damit erreichte sie nur, dass sie sich den Hals brach. Andererseits – vielleicht wäre ein schneller Tod der Ehe mit Chastain vorzuziehen.
Eine Woche verging. Und noch eine.
Und dann, plötzlich, war der Tag ihrer Hochzeit da.
Morgens kamen ihre Mutter und Lutisse herein und versuchten sie zu überreden, ihr schönstes Kleid und ihren kostbarsten Schmuck anzuziehen. Isabelle wusste, sie sollte sich wehren und den ganzen Plunder zum Fenster hinauswerfen, doch irgendwann in den vergangenen zwei Tagen war der letzte Rest ihres Kampfgeistes erloschen. Sie fühlte sich leblos, müde und schwach, und so ließ sie es geschehen, dass die beiden Frauen sie ankleideten. Dabei lächelten sie gequält und quasselten mit aufgesetzter Fröhlichkeit davon, was für ein schöner Tag dies werden würde, Isabelle werde es gewiss nicht bereuen, den reichen Tuchhändler zu ehelichen, sie werde schon sehen.
Die nächsten Stunden rauschten an ihr vorbei wie ein verschwommener, unwirklicher Albtraum. Mit versteinerter Miene führte Gaspard sie zu Chastains Pfarrkirche, wo sich die beiden Familien mit den Schwurbrüdern der Gilde und den übrigen Gästen zu einer ausgelassenen, lärmenden Menschenmenge vereinigten.
Als Chastain Isabelle erblickte, erschien auf seinem Gesicht ein schwachsinniges Trottelgrinsen, das für den Rest des Tages nicht mehr verschwinden sollte. Der Pfarrer, ein kränklich aussehender Kerl mit Pferdegesicht, leierte die Brautmesse herunter. Lieder wurden gesungen, Weihrauch verbrannt, das Hohelied der Liebe vorgetragen, und irgendwann strömte die Menge zur Brautpforte in der Nordseite der Kirche hinaus. Isabelle und Chastain blieben unter dem Vordach stehen, während die Gemeinde im Kirchhof Aufstellung bezog.
»Ich warne dich – verdirbt es ja nicht«, raunte Gaspard ihr zu, bevor er zu Marie, Lutisse und den Bediensteten schritt.
»Willst du, Hernance Chastain, Isabelle Caron, die Gott dir anvertraut, als dein Eheweib lieben und ehren und die Ehe nach Gottes Gebot führen, bis der Tod euch scheidet, so antworte mit Ja«, wandte sich der Priester an Chastain.
»Ja!«, sagte der Tuchhändler entschlossen.
Der Geistliche blickte Isabelle mit seinen wässrigen Augen an. »Willst du, Isabelle Caron, Hernance Chastain, den Gott dir anvertraut, als deinen Gemahl lieben und ehren und die Ehe nach Gottes Gebot führen, bis der Tod euch scheidet, so antworte mit Ja.«
Obwohl Gaspard sie drohend anstierte, schwieg Isabelle. Chastain trat nervös von einem Fuß auf den anderen, ohne dass das Lächeln aus seinem Gesicht wich. Der Priester schaute erst sie an, dann ihn, dann wieder sie. »So antworte mit Ja«, wiederholte er mit Nachdruck und zeichnete ein Kreuz in die Luft, offenkundig in der Hoffnung, damit die störrische Braut an ihre christlichen Pflichten zu erinnern.
Als Isabelle abermals nichts sagte und sich das peinliche Schweigen bis in jede Ecke des Kirchhofs ausdehnte, entschied der Geistliche kurzerhand, mit der Zeremonie fortzufahren. Mit großem Getue besprenkelte er die Brautleute mit Weihwasser und sprach lauthals den Segen: » Et ego vos coniungo in nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti.«
Der Messe schloss sich der Brautlauf an, bei dem die Familien und ihre Gäste von der Kirche zu Chastains Haus zogen, damit der Tuchhändler seine Braut heimholen konnte, wie es seit alter Zeit Brauch war. Isabelle und ihr Gemahl nahmen auf einem Pferdewagen Platz, den Chastains jüngerer Bruder Aubry durch die Gassen lenkte. Dass ein reicher Bürger heiratete, kam in einer kleinen Stadt wie Varennes nicht allzu oft vor, und eine Prozession prächtig gekleideter Menschen war stets ein willkommener Anblick. Leute traten aus ihren
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