Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
hat mir mehrmals das Leben gerettet.«
Michel hätte Jean am liebsten noch einmal umarmt. Gewiss, der unselige Kreuzzug hatte seinen Bruder an Körper und Seele gezeichnet, doch tief im Innern war er noch ganz der Alte.
»Dass wir in Kleinasien nicht völlig aufgerieben wurden, haben wir allein Gottes Gunst und unverschämtem Glück zu verdanken«, erzählte Jean weiter. »Als wir endlich in Konstantinopel ankamen, waren wir mit unseren Kräften am Ende …«
Zwei Monate blieben die geschundenen Kreuzfahrer in der Hauptstadt des Byzantinischen Reiches, pflegten ihre Wunden und kurierten ihre Krankheiten aus. Leider besaßen sie nicht genug Geld, um sich eine Schiffspassage nach Italien oder Frankreich leisten zu können. So hatten sie keine andere Wahl, als zu Fuß weiterzugehen.
»Die Reise durch Serbien und Ungarn war nicht ganz so gefährlich wie der Marsch durch Kleinasien, aber genauso mühsam«, erklärte Jean. »Im Balkangebirge trieben sich Räuberbanden herum, was uns zu Umwegen zwang. Wir verirrten uns ständig und kamen kaum voran …«
Durch die Strapazen und das wechselhafte Wetter wurden einige der Männer abermals krank, weshalb die Schar wiederholt tagelang rasten musste. Einmal blieben sie sogar zwei Wochen in einem einsamen Bergdorf, denn Yves war in den Wäldern von einem Wolf angefallen und verletzt worden, und Jean und seine Gefährten wollten ihn auf keinen Fall zurücklassen. Inzwischen war außerdem der Winter hereingebrochen, sodass sie bis März warten mussten, ehe sie weiterziehen konnten.
»In Ungarn hatten die Strapazen endlich ein Ende. Die Straßen wurden besser, das Wetter hielt, und wir schafften es in ein paar Wochen nach Regensburg. Dort gab es noch einmal Ärger, weil der Stadtvogt Amalric vorwarf, er hätte sich an der Tochter eines Patriziers vergriffen. Das Ganze war erstunken und erlogen – das Miststück hat ihn bei den Bütteln angeschwärzt, weil er sie nicht mitnehmen wollte. Aber beweise so etwas mal. Jedenfalls dauerte es zwei Wochen, bis wir ihn herausgehauen hatten. Danach geschah eigentlich nichts mehr. Wir durchquerten das Reich, und hier bin ich nun.« Jeans Finger schlossen sich um das Nazar , und das Lederbändchen straffte sich um sein Handgelenk. »Eins kann ich dir versichern: Dieser vermaledeite Kreuzzug hat meinen Durst nach Abenteuern ein für alle Mal gestillt.«
Michel lächelte. »Ich bin froh, dass du zu Hause bist. Du hast mir gefehlt, Jean.«
»Jetzt du«, sagte sein Bruder. »Was hast du getrieben, während ich fort war?«
»Tja. Womit soll ich anfangen? Am besten mit Isabelle.«
»Isabelle Caron? Gaspards Schwester?«
»Ja.«
Jean lehnte sich zurück. »Jetzt bin ich neugierig.«
Michel erzählte ihm alles. Von seiner Liebe zu Isabelle. Von all den katastrophalen Folgen ihres heimlichen Verhältnisses. Von ihrer Verurteilung vor dem Sendgericht, dem Verlust seiner Gildenmitgliedschaft und den Unruhen, die daraufhin in Varennes ausgebrochen waren. Als Jean erfuhr, was mit Bischof Ulman und Gaspard geschehen war, bekreuzigte er sich erschüttert, ballte die Rechte zur Faust und hielt sie sich an die Lippen.
»Ich habe alles versucht«, sagte Michel. »Aber ich konnte Gaspard nicht aufhalten.«
»Was ist mit unserem Haus passiert?«
»Es ist abgebrannt. Foulque hat Feuer gelegt, als er mich töten wollte.«
»Foulque wollte dich töten?«, fragte Jean fassungslos.
Michel erzählte ihm von seiner Vermutung, dass Géroux den Pferdeknecht angeheuert hatte, um sich an ihm zu rächen.
»Ich habe es dir gesagt«, murmelte sein Bruder. »Deine Feinde hatten nie aufgegeben. Du hättest dir neue Leibwächter suchen sollen, als Yves und Gérard auf den Kreuzzug gegangen sind.«
»Du hattest recht«, gab Michel zu. »Hätte ich nur auf dich gehört.«
»Unser Erbe ist also verloren?«
Michel nickte. »Nur das Salzschiff ist noch da. Und etwas Geld, das ich seitdem gespart habe. Es tut mir leid, Jean. Ich habe unserem Namen Schande gemacht.«
Sein Bruder stand auf, fuhr sich durch das Haar und trat ans Fenster. Als er sich zu ihm umwandte, erwartete Michel, er würde ihm Vorhaltungen machen, ihn beschimpfen und einen selbstsüchtigen Dummkopf heißen. Michel hätte es ihm nicht einmal verdenken können.
»Dass so etwas ausgerechnet dir passiert, dem unfehlbaren Schlaukopf«, sagte Jean.
»Ich bin weder unfehlbar noch ein Schlaukopf.«
»Nein. Offensichtlich nicht.«
»Ich ersetze dir deinen Verlust«, sagte Michel. »Du bekommst wie
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