Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
Rücksicht auf die Händler und ihre Auslagen, die heruntergeworfen und zertrampelt wurden, obwohl sich die Marktaufseher verzweifelt bemühten, die Ordnung zu wahren. Sämtliche Kirchenglocken läuteten.
»Lasst mich durch!«, brüllte Michel und kämpfte sich unter Einsatz all seiner Kräfte durch die Menge. Die Kreuzfahrer hatten sich am Marktkreuz versammelt, wo sie sich feiern ließen. Mütter umarmten weinend ihre Söhne, Ehefrauen ihre Männer, Schwestern ihre Brüder. Fässer wurden herbeigeschafft und an Ort und Stelle angestochen, Wein und Bier flossen in Strömen.
»Jean!«, schrie Michel, während er versuchte, das Durcheinander zu überblicken. Seit im vergangenen Winter die Kunde nach Oberlothringen gelangt war, die Kreuzfahrer Varennes’ seien trotz Barbarossas Tod weiter gen Jerusalem gezogen, hatte man nichts mehr von ihnen gehört. Hatte sein Bruder diese törichte Heerfahrt unbeschadet überstanden? Oder war er verletzt, verstümmelt, vielleicht sogar tot?
Bitte lass ihn am Leben sein, betete Michel atemlos. Wenn er gesund ist, spende ich Pater Jodocus für ein ganzes Jahr den Messwein.
»Herr!«, brüllte jemand, und mächtige Arme umschlangen ihn. »Wie schön, Euch zu sehen!« Es war Yves, sein ehemaliger Leibwächter. Der Hüne strahlte bis über beide Ohren.
»Wo ist mein Bruder? Ist er auch da? Geht es ihm gut?«
»Ja. Ja. Er ist da drüben. Kommt!«
Mit Yves’ Hilfe war es ein Leichtes, das Gewimmel aus wogenden Leibern zu durchqueren. Jean redete gerade mit Charles Duval, der ihn an den Schultern gepackt hatte und gar nicht mehr loslassen wollte. Sein Bruder bemerkte ihn, Michel blieb abrupt stehen, und sie starrten einander schweigend an.
Eine wahre Sturmflut von Erinnerungen und Gefühlen wallte in Michel auf. Ihre ständigen Auseinandersetzungen wegen des Kreuzzugs. Sein Zorn auf Jeans Sturheit. Ihr Zerwürfnis am Tag des Aufbruchs der Kreuzfahrer. Seine Reue. Die quälende Sorge um Jeans Leben. Die ständige Furcht um seinen Bruder. An all das dachte Michel, und plötzlich fielen Jean und er einander in die Arme, ohne dass er sagen konnte, wie es dazu gekommen war. Er weinte und rief: »Ich war ein Narr, ein solches Rindvieh! Ein herrischer, selbstgerechter Dummkopf. Ich hätte dich niemals verstoßen dürfen!«
»Ich war das Rindvieh.« Jean weinte auch. »Ich hätte auf dich hören sollen.«
Lange standen sie da und lagen sich schluchzend in den Armen, während um sie herum die Menge wogte.
»Wieso hast du nicht geschrieben?«, fragte Michel, nachdem er sich die Tränen abgewischt hatte. »Ich war ganz krank vor Sorge um dich.«
»Nun ja«, meinte Jean. »Wir sind nicht eben als Freunde auseinandergegangen, wenn du dich erinnerst.«
»Doch nicht mir. Vivienne.«
»Ich habe ihr geschrieben. Dreimal. Hat sie dir nicht davon erzählt?«
»Sie sagt, sie hat keinen Brief von dir bekommen. Sie müssen unterwegs verloren gegangen sein.«
»Können wir woanders hingehen?«, fragte Jean, dem das feuchte Haar im Gesicht klebte. »Dieser Trubel ist mir etwas zu viel.«
»Natürlich. Komm mit.«
»Gehen wir nicht nach Hause?«, fragte sein Bruder, als Michel ihn in Richtung Hungerturm schob.
»Wir wohnen nicht mehr am Domplatz.«
Jean reckte den Kopf. Erst jetzt bemerkte er die klaffende Lücke an der Stelle, wo einmal ihr Haus gestanden hatte. »Was, bei allen Dämonen …«
»Ich glaube, wir haben uns viel zu erzählen«, meinte Michel.
Jean hatte sich verändert. Er trug jetzt einen Bart, das hellbraune Haar fiel ihm bis auf die Schultern. Als er sich zu Hause abtrocknete und frische Kleider anzog, bemerkte Michel die eine oder andere Narbe an seinen Gliedmaßen. Zu seiner Erleichterung zeugte keine von einer ernsthaften Verwundung, nur von oberflächlichen Blessuren.
Außerdem war Jean ernster als früher, nachdenklicher. Was immer er auf dem Kreuzzug erlebt hatte, es hatte Spuren hinterlassen, nicht nur körperliche.
Kurz darauf saßen sie am Kaminfeuer, das Louis entfacht hatte. Von draußen drang das Getöse der feiernden Stadt herein.
»Nicht alle haben es geschafft«, sagte Jean, nachdem er sich mit Wein, Brot und kaltem Braten gestärkt hatte. »Sechs sind auf dem Heimweg gestorben.«
»Wer?«, fragte Michel bang.
»Raymond Fabre und Gérard. Sie fielen in Kleinasien, als wir in einen Hinterhalt seldschukischer Räuber gerieten.«
Michel bekreuzigte sich und schloss für einen Moment die Augen. Zwei gute Männer, gestorben für nichts. Einer davon ein guter
Weitere Kostenlose Bücher