Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
quälten ihn dunkle Ahnungen. Sechs Tage hatte er bis Speyer gebraucht. Sechs Tage, obwohl er sich beeilt, obwohl er jede Nacht nur ein paar Stunden geschlafen hatte. Eine halbe Ewigkeit. Zu gerne hätte er Artos zum Galopp angetrieben, doch der Zelter war erschöpft. Michel konnte froh sein, wenn er nicht auf der letzten Meile schlappmachte.
»Bitte, alter Freund. Lass mich nicht im Stich.«
Bei der Zollschranke im Süden Altrips roch er Feuer. Er holte das Letzte aus Artos heraus und ritt durch den Uferwald. Als sich die Bäume lichteten, sah er die Flammen.
Das Dorf brannte. Beinahe jede Hütte loderte wie ein Scheiterhaufen.
Was war hier geschehen? Waren Ottos Männer zurückgekehrt, um zu vollenden, was sie im Januar begonnen hatten? Michel blieb im Schutz der Bäume und machte einen weiten Bogen um die Ortschaft. In der Ferne sah er Gestalten im Feuerschein. Reiter, die Schwerter schwenkten.
Thomasîns Hof stand noch nicht in Flammen. Mit einem Stoßgebet auf den Lippen trabte er zu den Gebäuden, die sich dunkel am Flussufer erhoben.
»Rémy!«, brüllte er.
Er hörte Stimmen, sah huschende Schatten vor dem Haupthaus. Am Wegesrand standen zwei Pferde, Schlachtrösser mit Schabracken und Sattelzeug. Ihre Reiter waren abgestiegen und näherten sich dem Gehöft mit gezückten Streitäxten.
Ohne zu zögern, schlug er Artos die Sporen in die Flanken. Der Zelter wieherte vor Schmerz und preschte los. Einer der Kriegsknechte hatte sich zu ihm umgewandt und rief etwas, doch die Warnung kam zu spät: Michel ritt beide Männer über den Haufen und riss Artos herum. Einer war ins Gras gefallen und blieb liegen; der andere rappelte sich auf, hatte jedoch seine Axt verloren. Michel zog sein Schwert und schwang es über dem Kopf. »Verschwinde!«, schrie er. »Hau ab, oder ich schlag dir den Schädel ein!«
Der Mann gab Fersengeld und rannte zu seinem Pferd.
Michel ritt auf den Platz vor dem Haupthaus und glitt aus dem Sattel.
»Onkel Michel!«
»Rémy!«
Der Junge wollte zu ihm laufen, doch jemand hielt ihn fest. Isabelle. Sie stand mit zwei Mägden und einem Knecht vor der Tür, zu ihren Füßen lagen geschnürte Bündel. Der Knecht richtete eine Armbrust auf ihn.
Unwillkürlich hob Michel die Hände. »Ich bin ein Freund!«
»Was um alles in der Welt machst du hier?«, fragte Isabelle.
»Später. Sehen wir lieber zu, dass wir euch in Sicherheit bringen. Ich schätze, sie werden bald zurückkommen.«
»Wer ist der Kerl?«, knurrte der Knecht.
»Das ist Onkel Michel«, rief Rémy. Er riss sich los und lief zu ihm. Lachend schloss Michel ihn in die Arme. Sie waren wohlauf und unversehrt. Stumm dankte er Gott und allen Heiligen.
»Können wir ihm trauen?«, wollte der Knecht wissen.
»Ja«, antwortete Isabelle. »Jetzt kommt. Wir verstecken uns im Wald.«
»Wo ist Thomasîn?«, fragte Michel.
»Er ist tot.«
»Tot?«
Anstelle einer Antwort trat sie zu ihm, legte ihm die Arme um die Schultern, presste ihr Gesicht an seines. Ihre Wange war tränenfeucht. »Ich bin so froh, dich zu sehen.«
Michel küsste ihre Stirn und setzte Rémy ab. »Ich hole das andere Pferd. Wir werden es brauchen.«
Mit dem Schwert in der Hand ging er zum Pfad zurück. Der Kriegsknecht lag immer noch im Gras und rührte sich nicht; sein rechter Arm war unnatürlich verdreht. Vermutlich hatten ihm Artos’ eisenbeschlagene Hufe alle Knochen gebrochen, als Michel ihn niedergeritten hatte. Er steckte das Schwert in die Scheide, nahm das Schlachtross bei den Zügeln und führte es zum Hof. Es schnaubte, widersetzte sich ihm jedoch nicht.
Währenddessen hatte der Knecht ein weiteres Pferd aus dem Stall geholt. »Sollen wir das Vieh wirklich zurücklassen?«
»Wir haben keine Zeit, es fortzubringen«, sagte Isabelle.
»Sie werden es uns stehlen.«
»Besser, wir verlieren das Vieh als das Leben.«
Da die beiden Mägde nicht reiten konnten, stieg eine bei Michel auf und die andere bei dem Knecht. Boso, so der Name des Mannes, gelang es nach anfänglichen Schwierigkeiten, das Schlachtross zu bändigen. Isabelle nahm Thomasîns Pferd. Mit einer Hand hielt sie Rémy fest, der vor ihr saß; mit der anderen die Zügel.
Zügig kanterten sie nach Westen. Michel hatte überlegt, sich in ihrem alten Verschlag bei der Quelle zu verstecken, doch es war wohl sicherer, so tief wie möglich in den Wald zu reiten. Falls die Kriegsknechte nur auf Beute aus waren, wovon er ausging, würden sie dort nicht nach ihnen suchen.
Isabelle führte sie
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