Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
zu einer Lichtung inmitten des dichten Unterholzes. Dort stiegen sie ab und banden die Pferde an.
»Vorerst bleiben wir hier«, sagte Isabelle, während sie die Bündel mit ihren Decken, Kleidern und Vorräten auf den Boden warf. »Wenn es hell wird, schauen wir nach, ob die Soldaten noch da sind.« Sie sprach Deutsch, das sie inzwischen fließend beherrschte.
»Zuerst will ich wissen, wer der da ist«, sagte Boso, der wieder die Armbrust in den Händen hielt.
»Ein alter Freund aus meiner Heimat.«
»Wieso taucht er plötzlich hier auf?«
»Ich war zufällig in der Gegend«, log Michel. »Als ich hörte, dass Ottos Truppen durch die Vogtei ziehen, wollte ich mich vergewissern, dass es Isabelle und Rémy gut geht.«
Damit gab sich Boso zufrieden. Er ließ sich bei den Mägden nieder, packte einen Kanten Brot aus und kaute schweigend.
Michel, Isabelle und Rémy setzten sich auf die andere Seite der Lichtung. Isabelle legte ihrem Sohn eine Wolldecke um die Schultern, denn es war empfindlich kalt.
»Wieso hast du mir nicht geschrieben?«, fragte Michel leise.
»Ich habe dir geschrieben. Schon im Januar, nachdem die Soldaten das erste Mal da waren. Hast du meinen Brief nicht bekommen?«
Er schüttelte den Kopf. Er konnte allenfalls Vermutungen darüber anstellen, was mit dem Brief geschehen war. Vielleicht hatten die Kämpfe in der Rheinebene den Boten zu einem Umweg gezwungen, und er hatte die Nachricht verloren. Oder er war überfallen und erschlagen worden. Einem Reisenden, der ein Kriegsgebiet durchquerte, konnte alles Mögliche zustoßen.
»Hauptsache, euch geht es gut.« Michel nahm sie beide in den Arm, und so saßen sie unter den Bäumen, bis das Licht der Morgendämmerung durch das Blätterdach tröpfelte.
Boso blieb mehr als zwei Stunden fort. Als er zurückkam, war er bleich, und das dunkle Haar klebte ihm an den Wangen. Er warf seine Armbrust ins Gras und sank zu Boden. »Sie haben alles niedergebrannt. Alles. Im Dorf ist niemand mehr. Wer nicht erschlagen wurde, ist geflohen.«
Die Mägde begannen wieder zu schluchzen.
»Und die Soldaten?«, fragte Isabelle.
»Fort.« Boso nahm einen Schluck aus dem Wasserschlauch und spuckte aus. »Den Hof haben sie geplündert. Die Schweine, die Rinder – alles weg. Wenigstens haben sie bei uns kein Feuer gelegt.«
Isabelle nickte. Sie hatte nichts anderes erwartet.
»Wenn Ihr erlaubt, reite ich jetzt nach Muthach zu meiner Familie«, sagte Boso. »Ich muss wissen, ob sie wohlauf sind. Die beiden wollen mitkommen.« Er nickte zu den Mägden.
»Nehmt euch so viel Vorräte, wie ihr braucht.« Isabelle holte den Beutel mit ihrem restlichen Geld hervor und zählte Schillingmünzen ab. »Hier ist euer Lohn für die nächsten zwei Monate. Ich wünsche euch viel Glück.«
»Ihr entlasst uns?«, fragte der Knecht stirnrunzelnd.
»Ich kehre nicht auf den Hof zurück. Was davon übrig ist, verkaufe ich.« Sie hatte diese Entscheidung irgendwann in der vergangenen Nacht getroffen. Plötzlich war sie da gewesen, und sie hatte gewusst: Es war die richtige.
»Wo werdet Ihr hingehen?«
»Das weiß ich noch nicht.«
»Habt Dank. Ihr wart uns immer eine gute Herrin. Es … tut mir leid, was geschehen ist.«
Der Abschied war kurz. Schluchzend drückten die Mägde Rémy, dann stiegen sie in den Sattel des Schlachtrosses, das Boso an den Zügeln führte. Isabelle blickte ihnen nach, bis sie zwischen den Bäumen verschwunden waren.
»Haben die Soldaten Thomasîn getötet?«, fragte Michel nach einer Weile. Er saß mit Rémy im Gras und zeigte dem Jungen verschiedene lothringische und französische Münzen.
Sollte sie ihm die Wahrheit über Thomasîn erzählen? Einst hatte sie ihrem Gemahl geschworen, mit niemandem über seine Neigungen zu sprechen. Thomasîn hatte sie nie von ihrem Eid entbunden, doch in der Stunde seines Todes hatte er sich vor dem Gericht, dem Dorf und vor allem vor sich selbst zu seinen Gefühlen bekannt. Er hätte gewollt, dass sie Michel die Wahrheit sagte.
Schluss mit den Lügen, mit der Heimlichtuerei. Sie blickte zu Rémy und wünschte, sie wäre auch neun Jahre alt. Der Junge war ganz in die Betrachtung der Münzen vertieft. In diesem Alter genügten ein paar funkelnde Geldstücke, um einen wenigstens für eine halbe Stunde das Grauen der Welt vergessen zu lassen.
»Er wurde vorige Woche hingerichtet«, sagte sie. »Vom Gericht des Vogts. Sie haben ihn auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Er hatte ein Verhältnis mit einem Nachbarn. Ein
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