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Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)

Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Wolf
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Himmel. Gewiss schaut er uns gerade zu. Nun sag dein Gebet auf, damit er weiß, dass wir an ihn denken.«
    Er sprach die Worte, die sie ihn gelehrt hatte. Er sprach sie langsam, klar und aufmerksam. Während sie ihm dabei zusah, wie er mit seinen neun Jahren versuchte, alles richtig zu machen, damit sein Vater ein gutes Gebet bekam, war ihr, als schlage alles Elend der Welt in schwarzen Wellen über ihr zusammen. Sie wollte schreien, Gott verfluchen, sich die Haare ausreißen – und saß doch nur da und weinte.
    Isabelle wusste, sie musste Entscheidungen treffen. Doch sie war nicht dazu fähig. Drei Tage lang umschloss der Schmerz ihr Herz wie ein Kokon aus Eis und lähmte ihren Verstand. Am vierten Tag nach Thomasîns Tod betrat sie den Stall, fütterte das Vieh und begann nachzudenken. Die Nähe der Tiere half ihr stets, innerlich zur Ruhe zu kommen, die Welt zu vergessen und ihre Gedanken auf die drängenden Aufgaben der Zukunft zu richten.
    Was geschieht mit dem Hof, dem Land, Thomasîns Habe? Das Erbrecht der Vogtei glich weitgehend dem Oberlothringens, und es besagte, dass beim Tod eines Freisassen vorrangig der älteste Sohn erbte. Da Thomasîn keine Verwandten hatte, die Ansprüche anmelden konnten, fiel sein gesamter Besitz abzüglich des Freiteils für die Kirche an Rémy. Isabelle als seine Witwe bekam das Wittum, das sie bei der Hochzeit ausgehandelt hatten, und durfte bis zu ihrem Lebensende auf dem Gehöft wohnen. Sie würde die Güter verwalten, bis Rémy mündig wäre.
    Auch für sie selbst hatte Thomasîns Tod weitreichende Folgen. Sie unterstand nun niemandes Munt mehr, war eine freie Frau, eine Witwe, die den Schutz des Königs genoss, was immer das in diesen Zeiten wert war. Zum ersten Mal in ihrem Leben konnte sie tun und lassen, was sie wollte.
    Das warf Fragen auf: Wollte sie hierbleiben, den Hof bewirtschaften, bis sie alt und grau wurde? Wollte sie, dass ihr Sohn Bauer wurde?
    Nein. Rémy war zu klug, um sein Leben lang Hirse anzubauen und Kühe zu melken. Sie wusste, wenn er älter wäre, würde er die Welt sehen wollen. Er konnte Kaufmann werden wie sein leiblicher Vater, wie sein Großvater, wie alle seine männlichen Vorfahren. Das durfte sie ihm nicht verwehren.
    Sollte sie den Hof verkaufen und in die Stadt gehen, nach Speyer, damit Rémy eines Tages bei Onkel Eberold das Handwerk des Kaufmannes lernen konnte? Alles in ihr wehrte sich gegen diesen Gedanken. Wenn sie sich mit diesem Mann einließ, wäre es bald vorbei mit ihrer neu gewonnenen Freiheit. Eberold würde die Munt für sie beanspruchen und sie irgendwann mit einem seiner Gildebrüder verheiraten.
    Was also tun? Müde streichelte sie Desiderata, das neue Kalb. Sie wusste es nicht. Sie konnte diese Entscheidung nicht treffen. Vielleicht später einmal, aber nicht jetzt.
    Freiheit, so erschien es ihr an jenem Morgen, war eine unerträgliche Last.
    Anselm war kein großer Denker. Kaum ein Mann in Altrip war das. Wozu auch? Man musste kein gelehrter Schlaukopf sein, um das Getreide wachsen und das Vieh gedeihen zu lassen. Ein gutes Gespür für das Wetter, den Boden und das richtige Futter – darauf kam es an. Tatsächlich bereitete es Anselm nicht wenig Mühe, seinen Verstand zu gebrauchen; Nachdenken verwirrte ihn und machte ihn müde. Lieber hielt er sich an die Erfahrungen seiner Ahnen und die Worte des Pfarrers. Damit lag man immer richtig.
    Manchmal jedoch geschah es, dass sein Geist die ausgetretenen Pfade verließ, auf denen er seit vierzig Jahren wandelte. Meist, wenn ein unerwartetes Ereignis seine kleine Welt erschütterte. So wie Thomasîns Hinrichtung. Seit vier Tagen schon dachte Anselm an kaum etwas anderes als den Freisassen und sein abscheuliches Geheimnis, das durch eine Laune des Schicksals ans Licht gekommen war.
    Thomasîn – ein Sodomit. Da war ein Mann groß wie ein Baum und stark wie Siegfried, besaß die schönste Frau der ganzen Vogtei und hatte doch nichts Besseres zu tun, als sich mit einem anderen Kerl im Gras zu wälzen. Anselm konnte es einfach nicht fassen. Bei Johann hatte es ihn nicht sonderlich überrascht; von einem weibischen Hänfling erwartete man nichts anderes. Aber Thomasîn – nein. Unbegreiflich.
    Die stumme Sünde … Anselm hatte gewusst, dass es Männer gab, die dem eigenen Geschlecht zugetan waren. Doch es war eine Sache, auf dem Jahrmarkt davon zu hören – und eine völlig andere, jahrzehntelang zwei solche Kerle zu Nachbarn zu haben. Wenn er sich vorstellte, was Thomasîn und

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