Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
Tod ihres Mannes vor mehr als zehn Jahren wäre sie um ein Haar verarmt. Da sie keine Söhne hatte, wollte Bischof Jean-Pierre den größten Teil ihres Besitzes für die Kirche einziehen und sie lediglich mit dem Wittum abspeisen. Obwohl das Gesetz auf seiner Seite gewesen war, hatte sich Catherine erbittert dagegen gewehrt. Sie hatte ihrem Gemahl stets im Geschäft geholfen, ihn häufig gar auf seinen Reisen begleitet, und sie verstand mehr vom Fernhandel als so mancher erfahrene Kaufmann. Nach einem langen und zähen Rechtsstreit, bei dem sie sogar ein Bittgesuch an Herzog Simon Châtenois richtete, setzte sie schließlich durch, dass sie ihren Besitz behalten und das Geschäft weiterführen durfte – ein einmaliges Ereignis in der fast zweihundertjährigen Geschichte der Gilde. Seitdem galt sie als eingeschworene Gegnerin der Kirche.
»Was seid Ihr nur für ein frecher Kerl?«, meinte sie spöttisch, während sie über den dunklen Domplatz schlenderten. »Euer erster Abend und gleich ein solcher Auftritt. Ihr solltet Euch schämen.«
»Bitte macht Euch nicht über mich lustig«, erwiderte Michel matt. »Mir ist gerade nicht nach Lachen zumute.«
»Das denke ich mir. Wie wäre es stattdessen damit: Was Ihr vorhin getan habt, war sehr mutig. Nur wenige haben die Courage, so mit dem alten Géroux zu reden. Ich bewundere Euch.«
Michel musterte sie misstrauisch. Sie schien ihre Worte ernst zu meinen. »Und es hat ja auch so viel gebracht«, murmelte er.
»Ihr seid nicht der Einzige, dem klar ist, dass sich in der Gilde etwas ändern muss. Ich und viele andere denken ähnlich wie ihr.«
»Warum unternehmt Ihr dann nichts?«, fragte er, heftiger als beabsichtigt.
»Es fehlt an Entschlossenheit«, gab Catherine unumwunden zu. »Und an Einigkeit. Es gibt nur einen, dem ich zutraue, sich offen gegen Géroux zu stellen: Euer Freund Gaspard. Leider ist er viel zu hitzköpfig und unbesonnen, um die Schwurbrüder hinter sich zu vereinen, mag er ein noch so guter Kaufmann sein. Seine Ansichten sind vielen zu radikal.«
Ihr ahnt ja gar nicht, wie radikal, dachte Michel.
»Jedenfalls habe ich gerade mit Charles und Marc gesprochen«, fuhr die Kauffrau fort. »Auch ihnen hat gefallen, was Ihr gesagt habt.«
»Worauf wollt Ihr hinaus?«
Catherine blieb stehen, denn sie waren bei ihrem Haus angelangt. Ernst blickte sie ihn an. »Falls Ihr etwas unternehmen wollt – unsere Unterstützung hättet Ihr.«
»Wir sind nur vier«, entgegnete er.
»Irgendwann muss einmal ein Anfang gemacht werden. Es kann nicht ewig so weitergehen. Ich habe Euch den ganzen Abend beobachtet. Ihr seid anders als andere Menschen. Gott hat Euch eine außergewöhnliche innere Kraft geschenkt. Macht etwas daraus«, sagte sie, bevor sie die Tür öffnete und in der Dunkelheit ihres Hauses verschwand.
Am nächsten Morgen zählte Michel wieder einmal sein Geld und kam zu dem wenig überraschenden Ergebnis, dass seine Lage verheerend war.
Wir müssen dringend ein paar lukrative Geschäfte abschließen. Sonst ist es in zwei Monaten aus.
Er zog sein Taschentuch aus dem Ärmel des dünnen Gewandes und wischte sich das Gesicht ab. Obwohl noch nicht einmal Mittag, war es bereits so heiß, dass ihm bei jeder Bewegung der Schweiß ausbrach. Schwerfällig schlurfte er zum Fenster, betrachtete das Treiben auf dem Domplatz und sehnte mit jeder Faser seines Körpers ein kühles Lüftchen herbei. Wegen der Hitze konnte er sich kaum auf seine Arbeit konzentrieren. Außerdem spukten ihm seit gestern Abend immerzu Catherine Partenays Worte im Kopf herum.
Ihr seid anders als andere Menschen. Gott hat Euch eine außergewöhnliche innere Kraft geschenkt. Macht etwas daraus.
Sie hatte recht – er durfte sich von dem Vorfall bei der Gildenzusammenkunft nicht entmutigen lassen. Wenn er etwas ändern wollte, musste er handeln. Er setzte sich ans Schreibpult, tauchte die Feder in die Tinte und schrieb drei kurze Briefe, jeweils einen an Catherine Partenay, Charles Duval und Marc Travère. Der Wortlaut der Nachrichten war stets derselbe: Er lud die drei Kaufleute für den morgigen Abend zu sich nach Hause ein und bat sie, Stillschweigen über das bevorstehende Treffen zu wahren. Nachdem er die Tinte mit Kalk getrocknet und die Nachrichten zusammengerollt und versiegelt hatte, rief er Adrien und wies ihn an, die Briefe zu überbringen.
Als der Pferdeknecht davoneilte, erfüllte ihn plötzlich drängende Unruhe. Die Enge in der Schreibstube war ihm mit einem Mal zuwider,
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