Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
Auge. »Komm endlich.« Abermals ergriff er ihre Hand und führte sie, nicht sonderlich sanft, aus der Gasse.
»Hat er dir wehgetan?«, fragte er, als sie zur Straße kamen.
»Mir geht es gut. Ich habe mich nur schmutzig gemacht.«
»Da drüben ist ein Brunnen. Da kannst du dich waschen.«
Sie setzte sich auf die Steinbank neben dem Brunnen und kraulte den Hund, der Wasser aus einer Pfütze schlabberte. »Ich glaube, wir machen erst einmal dich sauber. So schmutzig, wie du bist, kommst du mir jedenfalls nicht ins Haus. Und dann überlegen wir uns einen Namen für dich. Wie wäre es mit Magnus? Nein, nicht gut. Vielleicht Morpheus?« Sie blickte Michel an. »Was meinst du?«
»Was ich meine?«, erwiderte er aufgebracht. »Dass du nicht ganz bei Trost bist! Was ist nur in dich gefahren, mit diesem Kerl Streit anzufangen? Hast du nicht das Brandmal gesehen? Er war ein verurteilter Dieb oder Schlimmeres. Wer weiß, was er dir angetan hätte, wenn ich nicht gekommen wäre. Und alles nur wegen eines Hundes!«
»Was hast du überhaupt in der Gasse gemacht?«
»W-wieso?«
»Du hast mich auf dem Domplatz gesehen und bist mir nachgegangen, nicht wahr?«, fragte sie grinsend.
»Was? Nein! Wie kommst du darauf? Ich musste … ich war zufällig … der Fischmarkt …« Er holte Luft. »Das tut überhaupt nichts zur Sache«, sagte er streng. »Was du getan hast, war unbedacht, ja einfach töricht. Wenn du schon einen Straßenköter retten musst, nimm wenigstens einen Knecht mit. Du weißt doch, dass viele Unterstädter uns verachten. Heute war die Menge auf deiner Seite, warum auch immer, aber beim nächsten Mal hast du vielleicht nicht so viel Glück …«
So schimpfte und wetterte er, außer sich vor Wut. Nein, nicht vor Wut, dachte Isabelle. Vor Sorge. Sorge um mich.
Bevor sie begriff, was sie tat, stand sie auf, legte ihm die Hände auf die Wangen und küsste ihn, ohne sich darum zu scheren, ob irgendwer sie sah.
»Isabelle«, flüsterte er.
»Nicht reden«, sagte sie leise und zog ihn in den Winkel hinter dem Brunnen, wo tiefe Schatten sie verbargen.
Staub wallte auf, als der Ochsenwagen in der Nachmittagshitze über den Domplatz rumpelte. Michel lenkte ihn an den Marktständen vorbei zu ihrem Haus. Im Hof zog er an der Leine und brachte den Ochsen zum Stehen.
Sie hatten Salz geladen, sechs Fässer voll. Michel hatte Geld zusammengekratzt und so viel gekauft, wie sie sich gerade noch leisten konnten, in der Hoffnung, dass sie es auf der Sankt-Johannes-Messe in Troyes mit einem ordentlichen Gewinn verkaufen konnten. Die Chancen dafür standen gut: Lothringisches Salz war stets begehrt auf den Champagne-Messen, und man hörte überall, dass burgundische und englische Kaufleute gerade Rekordpreise dafür zahlten. Aber diesmal durfte nichts schiefgehen. Wenn sie auch die Reise nach Troyes verpatzten, drohte ihnen noch vor dem Ende des Sommers der Ruin.
Jean sprang vom Wagenbock und begann, den Ochsen auszuspannen. Während Michel ihm zur Hand ging, wanderten seine Gedanken zu Isabelle, zum tausendsten Mal an diesem Tag, seit er in aller Frühe mit ihrem Bild vor Augen aufgewacht war. Ihm war, als spüre er immer noch ihre Lippen auf seinen, ihr Haar auf seinen Wangen, und wenn er die Augen schloss, roch er ihren Duft, hörte er ihre Stimme, die leise sagte: Und was jetzt, Herr de Fleury?
Was war er doch für ein Dummkopf. Es hatte erst einen halbtoten Hund, einen wütenden Tagelöhner und einen verstohlenen Kuss im Schatten eines Brunnens gebraucht, dass er sich endlich hatte eingestehen können, was er für sie empfand. Dabei wusste er es tief in seinem Innern schon seit Wochen, seit jenem Abend, als er ihr geholfen hatte, den Stein aus Curians Huf zu entfernen.
Und was jetzt, Herr de Fleury?
Die halbe Nacht hatte er wachgelegen und darüber nachgedacht, obwohl die Antwort denkbar einfach war: Er würde zu Gaspard gehen und um ihre Hand anhalten. Sobald er keine Geldsorgen mehr hatte, würde er es tun, noch vor dem Winter. Vielleicht war das verfrüht, vielleicht sogar unvernünftig – aber zum Teufel mit allen Bedenken! Er wollte, dass sie seine Frau wurde, er wollte das mehr als sonst etwas auf der Welt.
»He! Ich rede mit dir!«
Michel bemerkte erst, dass Jean mit ihm sprach, als ihm sein Bruder mit der Hand vor dem Gesicht herumwedelte. »Entschuldige. Was hast du gesagt?«
»Was ist denn heute mit dir los? Schon den ganzen Tag starrst du Löcher in die Luft. Du wirst doch nicht krank oder so?«
»Das
Weitere Kostenlose Bücher