Das Salz der Erde: Historischer Roman (German Edition)
und er stieg die Treppe hinab.
»Ich vertrete mir die Füße«, sagte er zu Jean, der im Eingangsraum saß und ein Salzfass reinigte. »Zum Mittagessen bin ich wieder da.« Als er das Haus verließ, entschied er, zum Fischmarkt zu gehen und von dort aus an der Mosel entlangzuschlendern. Am Wasser war es gewiss kühler als in der Stadt, und vielleicht kam gegen Mittag sogar etwas Wind auf.
Er setzte seine Mütze auf und schlurfte über den Marktplatz, wobei er sich nach Möglichkeit im Schatten hielt. An den Ständen der Bauern und Kleinkrämer war kaum etwas los, denn bei dieser Hitze erledigten die meisten Leute ihre Einkäufe früher am Morgen. Die beiden Marktaufseher hatten nichts zu tun. Einer lehnte am Brunnen, die Daumen hinter den Gürtel gehakt, und plauderte mit einem städtischen Zöllner, während der andere lustlos an einem Bierhumpen nippte.
Da vorne – war das Isabelle? Kein Zweifel, sie schritt zur Rue de l’Épicier und verschwand gerade hinter der Kathedrale.
Nach ihrem Spaziergang vor zwei Tagen und dem seltsamen Abenteuer auf der geheimen Lichtung hatte Michel ihr das Versprechen abgenommen, dass sie sich wieder treffen würden, sobald er von der Messe in Troyes zurück wäre. Frühestens Anfang August also. Schon an jenem Abend hatte er sich gefragt, wie er drei lange Wochen überstehen sollte ohne ein Lächeln von ihr.
Sieh an, dachte er, als er ihr nachging. Sie ist allein. Weit und breit keine Alice in Sicht. Was sagt man dazu?
Gemächlich schlenderte Isabelle die Straße entlang. Ihr begegnete kaum jemand, lediglich zwei müde Handwerksburschen und eine alte Matrone, die Körner für die Hühner ausstreute. Wer konnte, blieb bei dieser Hitze zu Hause oder hielt sich von morgens bis abends im Schatten auf. Wie beinahe an jedem Tag dieses glühend heißen Sommers dankte Isabelle ihrem Schöpfer, dass sie nicht verheiratet war. Denn wenn sie es gewesen wäre, hätte sie ihr Haar schicklich unter einer Haube verbergen müssen – bei dieser Hitze gewiss eine Qual. Als Unverheiratete dagegen durfte sie es offen tragen, was ihr auf dem Markt neidvolle Blicke der älteren Frauen eingebracht hatte.
Obwohl Tagträumerei eigentlich nicht ihrem Wesen entsprach, wanderten ihre Gedanken wieder einmal zu Michel. Mit einem Lächeln im Gesicht dachte Isabelle an ihren gemeinsamen Ausflug zu der verborgenen Lichtung. Seit ihrem Abschied an jenem Abend passierte ihr das ständig, dabei war das gar nicht ihre Art. Ihre Mutter, Lutisse und Alice machten sich schon über sie lustig, weil sie immerzu Löcher in die Luft starrte und dabei still vor sich hin lächelte.
Isabelle wusste, dass Gott sie mit großer Schönheit beschenkt hatte. Sie war darauf nicht besonders stolz – wieso sich mit etwas brüsten, für das man nicht das Geringste konnte? Sie wusste auch, dass es viele Männer gab, die sie deswegen begehrten: hauptsächlich alte Kaufleute, deren Frauen im Kindbett gestorben waren und die sich mit dem Gedanken trugen, wieder zu heiraten – wie etwa der unerträgliche Robert Laval. Jeden Sonntag bei der Messe bemerkte Isabelle die lüsternen Blicke, die ihr die verknitterten Pfeffersäcke zuwarfen. Sie kannte einige Frauen, die wesentlich ältere Männer geheiratet hatten. Das war kein angenehmes Schicksal. Man war für seinen Gatten meist nicht mehr als ein nettes Spielzeug, ein hübsches Kleinod, mit dem er vor Freunden und Rivalen prahlte, wie mit einem Rassepferd oder einem goldenen Kerzenleuchter. Zuneigung oder gar Liebe bekam man dafür keine. Alles, was man erwarten konnte, war, ihm Kinder zu gebären – falls der Mann überhaupt noch imstande war, welche zu zeugen.
Dagegen Michel. Er war so anders, so viel freundlicher und liebenswerter. Sie hatte noch nie einen Mann getroffen, der so aufrichtig war und so viel Tatkraft besaß. Wenn er über seine Pläne sprach, sprühten seine meergrünen Augen vor Begeisterung, dass man gar nicht anders konnte, als sich mitreißen zu lassen. Wenn nur Alice nicht im falschen Moment aufgetaucht wäre …
Sie bemerkte, dass sie vor lauter Träumerei beinahe an ihrem Ziel vorbeigegangen wäre. Lächelnd über ihr Missgeschick schlüpfte sie in die Seitengasse, die parallel zum Kanal der Unterstadt verlief, und ging zu einer der schäbigen Hütten.
Tagelöhner wohnten hier, eine neunköpfige Familie, die manchmal in der Saline arbeitete. Die Leute besaßen einen Hund, und Isabelle hatte gestern Abend von Alice erfahren, dass sie das Tier sehr schlecht
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