Das Salz der Mörder
Zusammenhang zwischen Achtung und Beachtung in
unserer modernen Gesellschaft. Das spielt sich zwischen Kleingarten und
Kleingarten, zwischen Haustür und Haustür ab – jeder streckt seine Brust heraus
und will der Größte sein. Und auf einer unvorstellbaren globalen Weise ebenso
im Internet: Jeder hat die Möglichkeit sein Ego auf einer Web-Seite weltweit
zur Schau zu stellen. So etwas gab es bislang in der Geschichte der Menschheit
noch nicht, dass man sein Ich vor Milliarden von Usern in solch einer
zügellosen Freiheit prostituieren konnte.
ARD:
Wollen Sie damit sagen, der Wegner will bloß auf sich auf-merksam machen?
Prof.
STÜCKLI: Ja, natürlich. Leider weiß ich nicht, ob er das Internet oder einen
ordinären Briefkasten für seine Datenübertragungen benutzt. Aber darum geht es
gar nicht. Wie ich seine Vergangenheit einschätze, hatte der nicht viel zu
lachen gehabt. Man muss den Kommunismus in derselben Weise als unmenschlich
klassifizieren wie den Nationalsozialismus. Totalitäre Regime hinterlassen
grauenhafte Spuren. Wie aus dem „Schwarzbuch des Kommunismus“ von Stéphane
Courtois und anderen französischen Wissenschaftlern hervorgeht, hat der
Kommunismus in diesem Jahrhundert weltweit über 80 Millionen Menschen, eigene
Leute und Widersacher, umgebracht. Die seelischen Folgeerscheinungen von
Gefolterten oder Hinterbliebenen sind meistens Verstörung und Destruktion. Der
Wegner fühlte sich ständig unterdrückt und abhängig, fühlte sich wie ein
missbrauchtes Teil der schweigenden Masse. Nicht anerkannt - ohne
Selbstbewusstsein. Das bricht nun aus ihm heraus wie aus einem Wasserkessel,
der unter Dampf steht, und das Ventil hält dem Druck nicht mehr stand. Das ist
doch ganz normal, gleichgültig, ob jemand von Ost oder West, Nord oder Süd oder
sonst woher kommt: Jeder braucht Aufmerksamkeit, jeder will sich im Bewusstsein
seiner Zeitgenossen widerspiegeln. Jeder Mensch möchte Interesse erwecken. Erst
dann erkennt er, wer er selbst ist, wenn andere ihm Beachtung schenken. Das
steigert die Wertschätzung. Das Selbstwertgefühl ist abhängig von der
Wertschätzung, die wir von anderen entgegennehmen.
ARD:
Frau Doktor Flöter, wie sieht die Kriminologin den Zusammenhang zwischen
Popularität und Kriminalität?
Dr.
FLÖTER: Dafür gibt es ein sehr gutes Beispiel. Sie erinnern sich gewiss an den
berühmten Postraub in England Anfang der sechziger Jahre. Der Raub war ein
krimineller Akt, doch die Räuber stilisierte man zu Nationalhelden hoch. Zum
ersten Mal nach Robin Hood wurde eine kriminelle Aktivität unter einem
positiven Aspekt gesehen. Was diesen Herrn Wegner betrifft, so kenne ich des
Volkes Meinung nicht.
ARD:
Die Frage stelle ich an alle: Was meinen Sie, sollten wir ihm das Geld
auszahlen oder nicht?
Dr.
SCHMID-MERTENS: Unser deutscher Staat lässt sich nicht erpressen. Das lief
schon nicht bei der RAF und heute erst recht nicht. Obwohl, im Fall Wegner
liegt der Sachverhalt ein klein wenig anders. Wenn wir seine Forderung nicht
erfüllen, will er seine Kinder . . . Er hat angedroht, er wird seine Kinder
zerstückeln und jede Woche einen Körperteil an eine große deutsche
Fernsehanstalt schicken. Überdies zwingt er den Sender die Körperteile sonntags
zur besten Sendezeit - wie er meint, wäre das um zwölf Uhr, nach dem Kirchgang
und vor dem Mittagessen - in einer halbstündigen Sondersendung dem deutschen
Fernsehpublikum zu zeigen. Das will er so lange machen, bis die Kinder an den
Verstümmlungen sterben.
ARD:
Und Sie behaupten, der Mann sei nicht krank, Herr Staatsanwalt?
Prof.
LEISTNER: Das wirft ja ein völlig neues Licht auf diese Geschichte. Frau Doktor
Flöter, ich vermute, nun ist Ihr Problem von eben beantwortet: Des Volkes Zorn
wird sich über diesen Wegner ergießen, und der Begriff der Kriminalität ist
endlich wieder negativ besetzt. Trotzdem stellt sich abermals die berühmte
Frage: Handelt es sich beim Wegner um einen pathologischen oder um einen
schuldfähig nicht pathologischen Täter? Leider sehe ich in unserer Runde keinen
Psychologen, der uns dazu etwas Genaueres sagen könnte.
Dr.
SCHMID-MERTENS: Weiterhin äußert er, es falle ihm schwer, Mitleid für die
Kinder zu empfinden, weil es nicht seine eigenen Kinder sind. Er ist sich
sicher, gleichermaßen von der Stasi bespitzelt worden zu sein wie Millionen
andere auch, die sich nicht staatskonform verhielten. Was seine Kinder
betreffe, sollte sich die Staatsanwaltschaft an die Gauck-Behörde wenden.
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