Das Salz der Mörder
ungeachtet war immer noch äußerste
Vorsicht geboten. Der Schalter zur Betätigung des Mechanismus befand sich gemäß
der Aufzeichnungen im Innern des Weißen Hauses. Die Experten entdeckten in der
rechten Seitenwand des Foyers eine Art Steckdose mit ungewöhnlicher
Polbestückung. Es existierte somit noch ein dazugehöriges Gegenstück, an dem
sich der erforderliche Spezialschalter befinden musste. Während das gesamte
Gebäude nach diesem Teil durchsucht wurde, stritten sich die Spezialisten über
die notwendigen Durchführungs- und Sicherheitsbestimmungen. Einer wollte jeden
einzelnen Sprengsatz bergen und entschärfen. Ein anderer bezweifelte diesen
Vorschlag und gab zu bedenken, dass durch die im Konstruktionsplan dargestellte
Kettenreaktion bei der Hebung der ersten Sprengladung gleichzeitig die
restlichen detonieren könnten. Es herrschte allgemeine Ratlosigkeit. Auch wenn
man den Schalter finden und den Anweisungen im Heft des Jungen Folge leisten
würde, wäre trotzdem eine Desaster nicht auszuschließen.
Jene
allgemeine Ratlosigkeit entstand durch das Kompetenzgerangel der einzelnen
Abteilungen der Ermittlungsbehörde. Um die Zuständigkeiten stritten sich die
Staatsanwaltschaften in Kiel und München. Niemand koordinierte die
Bergungsarbeiten und Durchsuchungs- und Sicherungsmaßnahmen in Wusterwalde. Vor
Ort hielt sich zu jenem Zeitpunkt nicht ein einziger Verantwortlicher der
jeweiligen Staatsanwaltschaften und Landeskriminalämter auf. Ein unfasslicher
Vorgang. Die Gründe dafür lagen auf der Hand: der aus Münchner eingesetzte
Staatsanwalt Dr. Andreas Schmid-Mertens leitete den Abtransport der
Hansen-Clique auf dem Hamburger Flughafen Fuhlsbüttel, seinen Kieler Kollegen,
dem man hinter vorgehaltener Hand den Spitznamen „der Kaffeetrinker“
verabreichte, hatte man kürzlich wegen des mysteriösen und ungeklärten
Schießbefehls, bei dem zehn Polizeibeamte getötet und einer lebensgefährlich
verletzt worden war, suspendiert. Da sich die Ereignisse überstürzten, fand man
aus zeitlichen Gründen keinen adäquaten Ersatz für die Einsatzleitung der
„Operation Brunnen“ - es war Pfingsten.
Als
Höhepunkt der Konfusion sollte noch erwähnt werden, dass sich der
Bundespräsident persönlich in die kontroversen Diskussionen der Bundesregierung
und über das Vorgehen des Krisenstabes im Falle Hansen und Wegner einmischte.
Zum endgültigen Eklat kam es, als er in einer eigenwilligen Erklärung sein
ausdrückliches Unverständnis demonstrierte.
„Meine
lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger, hier geht es um Menschenleben. Wir haben
die grundgesetzliche Verpflichtung mit aller staatlichen Gewalt, die uns
gegeben ist, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen. Und mein Appell
lautet: Vermitteln statt Liquidieren. Das Gleiche gilt für die
Unverletzlichkeit der Glaubensfreiheit. Um sich mit diesen tragischen Vorfällen
auseinandersetzen zu können, dürfen wir nicht nur strafrechtliche Aspekte in
Betracht ziehen, sondern müssen moralische Maßstäbe setzen.“
Mit
diesen wenigen Worten verschreckte er die Vertreter der Koalition während einer
nächtlichen Krisensitzung im Kanzleramt. Stimmen wurden laut. Man redete von
geistiger Umnachtung und dem Faseln von unverantwortlichen Sonntagsreden. Die
auffälligsten Schlagzeilen offerierte dem Leser natürlich wie eh und je das
auflagenstärkste Boulevardblatt - Die Bild Zeitung. „Pfingstochse hörnt
Vereinigungskanzler“. „Der Bundesrat einstimmig: Suspendiert ihn! Pensioniert
ihn!“ Innenminister Fanta stellt sein Amt zur Verfügung. Zitat: „Vor und hinter
meinem Rücken hat nichts zu passieren, von dem ich nichts weiß, wenn doch, lege
ich mein Amt nieder.“
Am
nächsten Morgen referierte der Pressesprecher des Präsidenten von einer
scheinbar unautorisierten Sentenz, die Norman Schmerztrog bei einem
öffentlichen Empfang ausländischer Diplomaten in der Deutschen Botschaft in
Peking geäußert habe. Obwohl der genaue Wortlaut jener Rede niemals publiziert
wurde, wurde der Bundespräsident beschimpft, beleidigt und für unfähig gehalten
das höchste Amt im Staate führen zu können. Durch den Sender „Deutsche Welle“
ist lediglich bekannt geworden, dass sich Norman Schmerztrog gegenwärtig von
den mächtigen Herren im Reich der Mitte die Unterschiede der Deutsch-Deutschen
und der Chinesischen Mauer erklären lässt. Nach längerem Zögern ließ sich der
Bundespräsident zu der Bemerkung hinreißen, dass beim Bau der
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