Das Salz der Mörder
Chinesischen
Mauer wesentlich mehr Menschen ums Leben gekommen seien als bei der illegalen
Überwindung des antifaschistische Schutzwalls des ehemaligen DDR-Regimes. Auch
diese Äußerung rief einen erheblichen Sturm der Entrüstung hervor – man empörte
sich über das Wörtchen „illegal“.
Dieser
ganze Vorgang wurde jedoch erst nach Abschluss der Untersuchungen öffentlich
und dementsprechend genüsslich von den Medien kommentiert. Trotz der Tragik der
Ereignisse, konnte man den Wusterwaldeer Ermittlungen eine gewisse Komik nicht
absprechen. Irgendjemand prägte den Begriff vom norddeutschen
„Bildbürgerstreich“, der einen unvermeidlichen Zusammenhang mit einer großen
deutschen Tageszeitung durchaus zu suggerieren versuchte.
In
den Kellerräumen des Weißen Hauses fanden die Beamten ein zehnadriges Kabel,
das offenbar zu dem Gegenstück in der Wand des Foyers passte. Mit dem Schalter
wurden acht Funktionen gesteuert: 1. Öffnen; 2. Heben; 3. Schwenken links; 4.
Stopp; 5. Start; 6. Schwenken rechts; 7. Senken; 8. Schließen. Diesmal schienen
sie sich einig zu sein: Die Fachleute sahen dieses einzigartige
Steuerungssystem als ziemlich veraltet an. Alle waren sich ebenfalls darüber im
Klaren, dass die etwa zwanzig Meter lange Zuleitung auf mindestens dreihundert
Meter verlängert werden musste, um bei den Schaltprozessen einen ausreichenden
Sicherheitsabstand zu gewährleisten. Da die Verlängerung der Drähte durch die
Techniker einige Zeit in Anspruch nehmen würde, empfahlen sie dem polizeilichen
Ermittlungsteam das Weiße Haus umgehend nach Beweismitteln zu durchsuchen und
anschließend das Gebäude ausnahmslos zu räumen. Eine verheerende Explosion sei
nach den jetzigen Erkenntnissen immer noch nicht auszuschließen. Es stellte
sich heraus, dass bereits in den Mittagsstunden von einem anderem Ermittlungsteam
Untersuchungen durchgeführt wurden und das Weiße Haus danach völlig leergeräumt
war, weil man alle Indizien nach Kiel abtransportiert hatte. Das Schaltkabel
für die Brunnenöffnung jedoch hatten die Kollegen in erfreulicher aber
unerklärlicher Weise übersehen. Daraufhin meinte jemand dienstbeflissen, dass
die herumsitzenden Beamten, die ja im Moment nichts zu tun hätten, das Weiße
Haus abermals durchsuchen sollten, bevor es tatsächlich in die Luft fliegt.
Für
eine hundertprozentige Sicherheit bei dem unumgänglichen Öffnungsversuch
konnten und wollten die Sachverständigen nicht garantieren, das muss hier zum
wiederholten Male klargestellt werden. Ja, darauf wurde ja oft genug
hingewiesen. Deshalb musste man auch den provisorischen Hubschrauberlandeplatz,
auf dem die restlichen Gemeindemitglieder für den Abtransport nach Fuhlsbüttel
warteten, verlegen, da die eintreffenden Helikopter stets das Rathaus
überflogen.
Nach
ungefähr drei Stunden waren sämtliche Arbeiten beendet. Das Weiße Haus stand einsam,
verlassen und leer in der späten Nachmittagssonne. Der Spezialanschluss steckte
in der Steckdose des Foyers, und das Schaltkabel führte über dreihundert Meter
Entfernung hinter einen sicheren Schutzschild aus eilig zusammengeschobenen
Sand- und Gesteinsmassen. Die Öffnung des Brunnens konnte demnach beginnen. Die
schweren, unhandlichen Teleobjektive der führenden Fernsehanstalten und
auflagenstärksten Zeitungen justierten sich alle auf einen einzigen Punkt ein:
auf den Brunnen von Wusterwalde. Um fünfzehn Uhr dreiundzwanzig nahm der
zuständige Obersprengmeister den ominösen Schalter in die Hand, stellte sich
hinter sein, auf ein Stativ montiertes Fernglas und betätigte die erste
Funktion: „Öffnen“. Als nichts geschah, drehte er den Knopf auf den zweiten
Befehl „Heben“. Wie von Geisterhand hob sich der Brunnen nach oben. Die Kameras
begannen zu klicken und zu surren. Schritt 3. „Schwenken links“, das
würfelförmige Gebilde schwenkte langsam zur linken Seite hinüber. Schritt 4.
„Stopp“. Es erstarb schlagartig jede Bewegung. Der Brunnen von Wusterwalde war
geöffnet. Stürmischer Beifall aller Beteiligten setzte ein und hallte durch das
verlassene Nordseedorf wider. Händeschütteln, Schulterklopfen - der
Obersprengmeister wurde zum Held des Tages und Blitzlichtopfer für die
Fotografen. An den zehnjährigen behinderten Jungen dachte niemand mehr. Auch er
sah sich das Spektakel um die Öffnung des Brunnens mit an. Hatte sich aber, als
alles gefahrlos überstanden war, wieder in sein Versteck zurückgezogen.
Man
wartete ab, um sicher zu gehen, dass eine
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