Das Salz der Mörder
nicht alles. Ich verheimlichte Dir noch anderes, weitaus Schlimmeres
als nur einen national-patriotischen Bruder zu verleugnen.
Bitte
erinnere Dich an Roswitha, meine Verlobte in Freilassing. Ich erzählte Dir
damals vor unserem Abflug nach Kuwait, Rosi und ich hätten uns getrennt. Das
war gelogen! Wir hatten eine kleine Auseinandersetzung – das stimmt. Es spielte
sich in unserem Schlafzimmer ab. Irgendwie wurde sie hysterisch, weil ich wegen
den verfluchten Rugbyspielen ständig unseren Hochzeitstermin verschieben
musste. Es war kein richtiger Streit - mehr im Spaß als im Ernst. Ich kam von
einem Match aus Manchester nach Hause und fiel totmüde ins Bett. Ich wollte
einfach meine Ruhe haben. Doch ständig fummelte sie an mir herum, boxte mich
leicht auf die Schulter oder piekste mich mit ihren Fingern in den Bauch. Sie
erzählte und erzählte wirres Zeugs. Als ich nach dem Duschen aus dem Bad komme,
fing sie erneut an mich zu ärgern. Ich war erschöpft und dachte nur ans
Schlafen. Ich weiß nicht, wie es geschah. Sie stellte sich mir in den Weg und
ich stieß sie kurzerhand weg - heftiger als ich es wollte. Sie verlor das
Gleichgewicht und rutschte mit dem Bettvorleger auf dem blanken Parkettfußboden
zur Seite. Ich sehe sie noch genau vor mir, es lief ab wie in Zeitlupe. Sie
fiel mit ihrem Genick so unglücklich auf die verdammte Bettkante . . ., sie war
sofort tot!
Ich
kann Dir gar nicht beschreiben, was in mir vor sich ging. Fassungslosigkeit und
Verzweiflung brachen mir das Herz. Ich liebte sie so sehr. Kannst Du Dir das
vorstellen? Sie war schwanger von mir. Und plötzlich war sie tot. Was sollte
ich bloß tun? Ich legte Roswitha auf unser Bett und deckte sie zu. Sie sah aus,
als würde sie schlafen. Drei Tage verließ ich das Haus nicht. Ich war wie von
Sinnen: Wie ein Verrückter lief ich durch die Wohnung, von einer Ecke zur
anderen und wusste nicht ein noch aus. Zwischendurch ging ich gelegentlich ins
Schlafzimmer: Ich bildete mir ein, sie würde wieder aufwachen. Trauer und Angst
stritten sich in meiner Seele. Hätte ich die Polizei gerufen, hätten die mich
sofort verhaftet. Nur ich wusste, dass es ein Unfall war, doch wer würde mir
glauben? Später ging ich in den Keller und versuchte vergeblich mit einem
Vorschlaghammer ein Loch in den Betonboden zu hacken. In der zweiten Nacht
begann ich im Garten zu graben. Ich beerdigte sie neben ihrer Rosenhecke.
Du
siehst, Freddy, ich habe Dich bewusst belogen, als ich Dir von unserer Trennung
erzählte. Umgebracht habe ich sie und bin danach mit Dir seelenruhig nach
Kuwait geflogen. Ich überstand die Geiselhaft nur deshalb so glimpflich, weil
ich die Folterungen als meine gerechte Strafe empfand. Die Iraker liefen mir
genau zur richtigen Zeit über den Weg. Ich hoffte, dadurch könnte ich meine
Schuld an Roswithas Tod sühnen. Dass sie mich für den Rest meines Lebens in
meinen Träumen verfolgen würde, davon wissen nur sie und ich. Ich habe ihren
tragischen Tod niemals überwunden. Wie Du weißt, bin ich nie mehr eine feste
Beziehung eingegangen.
Ich
habe bis heute nicht herausfinden können, in welche Regionen Deines Hirns Du
die Erlebnisse von Kuwait verbannt hast. Für jeden von uns ist es
unvorstellbar, aus heiterem Himmel bewusst von seinem bisherigen Leben
Abschiednehmen zu müssen. Womöglich hattest Du Dich irgendwie in Deine
DDR-Rolle zurückversetzt, denn Du wusstest aus eigener Erfahrung, was für
perverse Arten von psychischen und physischen Vergewaltigungen es gibt. Dass
Dir aber die Befähigung, Verluste und Beleidigungen zu ertragen, in Deinem
Leben einmal von Nutzen sein würde, konntest Du zu diesem Zeitpunkt bestimmt
noch nicht gewusst haben. Anscheinend warst Du mit dem, was die mit uns taten,
ebenso einverstanden wie ich. Du wirst danach versucht haben, alles zu
verdrängen. Genau das wollte ich nicht. Erst viel später wurde mir klar: Ein
entrinnbares Schicksal gibt es nicht. Ich genoss die Qualen meiner
Erinnerungen, zumal ich wusste, der Tag der Sühne würde kommen. Ich hatte meine
Souveränität in dieser Welt verspielt und beschwor die Bestrafung der Vorsehung
auf mich. Allein Gott hält alle Fäden in der Hand. So entwickelte ich mich zu
einem Fatalisten und verlor die panische Angst vor Strafe. Diese Erkenntnis hat
meine Einstellung zum Leben fundamental verändert. Infolgedessen ist es
vermutlich auch erklärlich, dass mein Bezug zum Alltag - zu Recht und Ordnung -
nach und nach ins Wanken geriet, meine somatischen Leiden,
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