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Das Salz der Mörder

Das Salz der Mörder

Titel: Das Salz der Mörder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Otto Stock
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nicht
mehr. Waren die hier alle verblödet? Nee, ich war’s! Was die da zeigten, war
gar kein Fernsehfilm, es waren die Frühnachrichten. Es war die nackte Realität,
die ich während meines Ausreisetrips nicht wahrnahm. Du weißt ja, wenn unser
Trabi erst mal angesprungen war, konntest du bei seinen unüberhörbaren
Fahrgeräuschen das Autoradio vergessen. Jedenfalls erfuhr ich in dieser
oberbayrischen Lagerkantine zum ersten Mal, dass die alten Bekloppten aus
Wandlitz inzwischen die Mauer aufgemacht haben. Ich hätte nämlich keine fünfzig
oder hundert Jahre mehr darauf gewartet.“
    Einigermaßen
entgeistert fragte ich sie: „Wenn die Bonzen aber die Mauer nicht aufgemacht
hätten, was wäre dann mit uns passiert? Du mit den Kindern im Westen, ich ohne
euch im Osten? Davon musst du doch letztendlich ausgegangen sein, als du deinen
eindrucksvollen Abschiedsbrief verfasst hast! Es ist außergewöhnlich
bemerkenswert, wie du mit Abstrakta wie ‚fünfzig oder hundert Jahre’ umgehen
kannst.“
    „Ja,
natürlich! Glaubst du etwa, die hätten dem Druck des Volkes noch länger Widerstand
leisten können? Irgendwann mussten sie ja die Mauer aufmachen. Ja, es stimmt,
ich war ein bisschen betrunken, als ich diesen bösen Brief schrieb. Sicherlich
habe ich mich deshalb so niederträchtig ausgedrückt. Bitte, entschuldige. Ist
dir nicht aufgefallen, dass eine Flasche Martini aus unserer Speisekammer
fehlte? Na, lassen wir das. Aber trotzdem, Freddy: Ich bin weg von dir, weil
ich dich zu jenem Zeitpunkt hasste: deine Trägheit, dein Desinteresse, deinen –
ich weiß nicht – deinen Fatalismus, dein stures Schweigen. Ich rede nicht von
deinen Weibergeschichten. Ich weiß, es war niemals etwas Ernstes mit deinen
Bräuten. Trotzdem hast du mich nicht beachtet. Warum wolltest du nicht mit mir
reden, geschweige denn schlafen? Weswegen? War dein Schwanz nicht mehr in der
Lage für mich steif zu werden? Hattest du Angst vor mir oder vor dir selbst?“
    „Angst
kannte ich bis dahin nicht. Angst, dich zu verlieren, ja! Dann kam die Angst
vor dem Alleinsein und der Ungewissheit. Wahrscheinlich glich ich eher meiner
Mutter: Resignation, verletzter Stolz und der Hass gegen das verlogene Regime,
prägten mich damals. Bitte, das sind keine Entschuldigungen oder
Rechtfertigungen. Ich glaube, wenn man liebt, sollte man sich nicht
rechtfertigen müssen.“
    „Du
sollst dich ja auch nicht rechtfertigen, Freddy. Und ich will mich auch nicht
rechtfertigen. Du sollst mich lieben, und du sollst mich jetzt endlich
anfassen!“
    Wir
hatten zwei hübsche, kleine, nebeneinanderliegende Zimmer in der
Schwesternunterkunft. Eines diente als Wohn- das nächste als Schlafzimmer. Auf
dem Flur befand sich eine Tür neben der anderen. An den meisten hingen
Namensschilder. Außer an der Küche, dort klebte ein „K“, am Fernsehraum ein
„F“, Abstellraum, „A“ und die Toilette hieß nicht WC, sondern „T“. Ich kam mir
vor wie in einem der langen Korridore meiner vormaligen Armeekaserne in
Leipzig.
    Zwei
mürrische alte Schwestern teilten sich die Leitung des Heimes. Und nach ihren
Maßstäben leiteten sie es auch: deutsch, bayrisch, katholisch. Sie achteten
penibel auf „Zucht und Ordnung“ in der Unterkunft, andernfalls wurde man dem
Krankenhausdirektorium gemeldet. Was immer das zu bedeuten hatte, wusste keiner
so genau. Trotzdem hielten sich alle Neubundesbürger gewissenhaft an dieses
ungeschriebene Gesetz. Nicht einmal zu Silvester fiel jemand aus der Rolle.
    Hinter
der Tür mit dem „T“ entdeckte ich am nächsten Morgen einen „Wegweiser für
Übersiedler aus der DDR“. Da man auf dem ovalen Rund des Toilettenbeckens
sowieso bloß eingeschränkt mehreren Beschäftigungen gleichzeitig verrichten
kann, nahm ich mir die kleine Broschüre zur Hand. Schon auf der Innenseite des
Pappdeckels überkam es mich frostig. Dort stand geschrieben: „Wichtiger
Hinweis! Hüten Sie sich vor falschen Helfern! Es gibt leider auch unseriöse
Händler und Firmenvertreter, die die Unerfahrenheit zugezogener Bürger
ausnützen und diese in Geschäften, aber auch an der Wohnungstür und sogar in
Übergangswohnheimen zum Abschluss angeblich günstiger Ratenzahlungskaufverträge
verleiten. Solche Verträge können Sie in große Schwierigkeiten bringen. Kaufen
Sie nur, wenn Sie wirklich bezahlen können, auch wenn damit zunächst der
Verzicht auf manches Schöne und Nützliche verbunden ist. Sollten Sie dennoch
einmal der Überredungskunst eines allzu

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