Das Salz im See 1: Ein teuflischer Plan (German Edition)
der Gedanke an das Tageslicht, den ersten Sonnenstrahl! Nun sah er Tageslicht, doch es löste keinerlei Gefühlsregung aus. Es war ihm gleichgültig, wie das Finden der Uhr. Hatten ihn die zurückliegenden Erlebnisse abgestumpft, hatte ihn die Begegnung mit den so schrecklich zugerichteten Bergleuten traumatisiert? Sicherlich hatte sie das! War das die übliche Reaktion? War er mit seiner psychischen Kraft am Ende? Würde er überhaupt in der Lage sein, diese letzte Harausforderung erfolgreich zu bestehen?
„Horst! Was siehst du? Ist da Licht? Los, sag es!“ Sander fuhr zusammen. Das Rufen des Russen löste ihn schlagartig aus seiner Starre. Es war die Mischung aus banger Erwartung und grenzenloser Euphorie in Igors Stimme, die ihn aufrüttelte! Sander spürte die Glut, als plötzlich Kraft, Zuversicht und Glaube an die eigene Fähigkeit in ihn zurückkehrten. Mit einem Male sah der Schacht in seinem milden, sich nach unten verlierenden Schimmer nicht abweisend aus, eher wie die Himmelsleiter, um die er so verbissen gerungen hatte.
Sander wandte sich, den Oberkörper zur Hälfte noch im Schacht, dem Russen zu. „Komm! Sieh selbst!“ Igor sprang von der Rampe, stolperte mehr als er stieg den Hang hinauf. Keuchend erreichte er Sander, rang einen Moment nach Luft. Dann beugte er den Oberkörper, stieß mit ihm tief in den Schacht hinein, in begieriger Erwartung, nach der Folter permanenter Finsternis endlich das Tageslicht zu sehen. So verharrte er minutenlang, stumm, unbeweglich. „Na, was sagst du?“ Keine Antwort. Nicht die geringste Reaktion. Sander bekam es mit der Angst. Er packte Igor bei der Hüfte, schüttelte ihn. „He! Komm zu dir!“ Plötzlich kam Bewegung in den Russen. Mit dumpfem Aufprall stieß sein sich auflösender Turban gegen die Schachtdecke, als er forsch den Oberkörper aus dem Schacht zog. Es störte ihn nicht. Seine Augen waren weit geöffnet, sie hatten einen Glanz, wie Sander ihn bisher nicht bemerkt hatte. Igor hatte das Tageslicht gesehen! Der Russe faßte ihn am Arm. „Horst, wir müssen da ‘rauf! Jetzt gleich!“
03. August, 10:10 Uhr Ortszeit; Portsmouth, England
Der Bentley nahm in flotter Fahrt die Auffahrt, bevor er nach einer schwungvollen Rechtskurve vor der Freitreppe des Anwesens zum Stehen kam. Es war ein typisches Landhaus im viktorianischen Stil, Sandsteinfassade, dreigeschossig, davor eine geschwungene Freitreppe, stattlicher zweiflügliger Eingang, raumhohe Sprossenfenster, zur Linken ein efeuüberwucherter Turm, gekrönt von einer schmiedeeisernen Wetterfahne. Vom Dach grüßten Kamine in stattlicher Anzahl. Die Villa verströmte die Eleganz des endenden 19. Jahrhunderts. Sie vermittelte unaufdringlich den Wohlstand ihrer Besitzer.
Der Fahrer stieg aus, ging um den Wagen, doch bevor er die linke Hintertür erreichte, schwang diese bereits auf. Ein mittelgroßer Mittvierziger stieg aus, rückte die Weste zurecht. Der Fahrer reichte ihm aus dem Kofferraum die Jacke. In diesem Moment öffnete sich oben ein Türflügel und zwei Kinder, erst ein Junge, dann ein Mädchen, vielleicht zehn und zwölf Jahre alt, stürzten die Treppe hinunter. „Daddy! Daddy!“ Ihre Freude verriet die lange Abwesenheit des Vaters. Der breitete zur Begrüßung die Arme aus.
Oben erschien die Dame des Hauses, Anfang, höchstens Mitte dreißig, schlank, sportlich, das blonde Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie trug Reitdreß. Die Gerte in ihrer Linken ließ darauf schließen, daß sie gerade im Begriff war, das Haus zu verlassen. „William! Du hier? Ich habe erst in zwei Wochen mit Dir gerechnet! Das ist aber eine Überraschung! Ich freue mich!“
William drückte die Jacke dem Fahrer vor die Brust, nahm die Kinder bei den Händen und stürmte mit ihnen die Treppe hoch. Sie liebten das! Oben begrüßten sie sich mit herzlicher Umarmung. „Sarah, Schatz! Schön, Dich wiederzusehen!“ Die jubelnden Kinder vorweg, betraten sie die Eingangshalle. Unten lud der Fahrer das Gepäck aus.
Von der Halle aus sah man in den hinter der Villa gelegenen weitläufigen Park. Davor lud eine großzügige Terrasse zum Verweilen ein. Dort nahmen sie Platz auf ausladenden Rattansesseln. „Jennifer!“ Das Hausmädchen trat aus dem Küchentrakt, der einen eigenen Ausgang zur Terrasse hatte.
„Madam?“
„Bitte, bring uns Tee und etwas Gebäck!“
„Gerne, Madam!“ Sie lächelte den Hausherrn an. „Willkommen daheim, Sir!“
William betrachtete sie wohlwollend. „Jennifer, du
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