Das scharze Decameron
so jede Gelegenheit, sein angeborenes Diebsgelüst zu befriedigen, geraubt war, hat er mir nachts alle meine Steine, Silber- und Goldsachen gestohlen, um sich daraus ein steinernes Kind zu bilden, bei dessen Geburt ich dann nachher natürlich gestorben wäre. Dank aber dem freundlichen Mekkapilger, der jedes Schmuckstück eines nach dem andern schnell und mühsam dem Dieb wieder entrissen und ihn zuletzt zu dem Schwur, nichts anderes Derartiges gestohlen zu haben, gezwungen hat. Ohne seine unterschiedlichen Bemühungen ginge ich nun, infolge deiner Gleichgültigkeit, dem sicheren Tode entgegen!« Als der Muezzin das hörte, ging er hinaus und sagte bei sich: »Dieser Mann hat den Tauschhandel anscheinend so gründlich betrieben, daß meine Frau für die nächsten Tage mich wohl kaum freundlich aufnehmen wird.« Der Muezzin ging fort. Er traf unterwegs den Mekkapilger und sagte: »Meine Frau hast du so sicher zurückgebracht, daß ich für deine eingehende Fürsorge nicht dankbar genug sein kann.« Der Mekkapilger sagte: »Wie hätte ich dir sonst die freundliche Nachhilfe, die du mir früher gewidmet hast, danken können!«
1 Aini-Lehrzeit
Kabylen
Zwei Burschen waren miteinander sehr befreundet, sie wohnten aber nicht in dem gleichen Dorf, sondern in zwei verschiedenen, die weit voneinander entfernt lagen. Der eine, Ahmar, sagte eines Tages zu dem anderen: »Wir wollen doch nicht mehr so weite Wege machen, wenn einer von uns dem anderen einmal etwas zu sagen hat. Wir wollen in das gleiche Dorf ziehen.« Der andere war einverstanden. Als die beiden Burschen heirateten, sagte Ahmar: »Wenn der eine von uns eine Tochter, der andere aber einen Jungen hat, dann sollen unsere Kinder sich heiraten.« Der andere war einverstanden.
Als sie nun einige Monate miteinander im gleichen Dorf gewohnt hatten, war es dem Ahmar leid geworden, daß er mit dem anderen das Abkommen der Verehelichung ihrer Kinder getroffen hatte. Als dem anderen nun also einige Zeit darauf ein Sohn, ihm aber ganz kurze Zeit darauf eine Tochter geboren wurde, da sagte er: »Meine Frau hat geboren. Ihr Kind soll Aini heißen. Aini ist ein Junge und kein Mädchen.« Darauf ließ der Vater den Aini in Jungenkleidern gehen, so daß alle Welt glaubte, Aini sei ein Junge.
Aini und der Sohn des anderen freundeten sich aber von Kindheit auf an. Der Junge und Aini trafen sich am Morgen bis zum Abend. Sie spielten zusammen. Sie aßen zusammen. Der Junge wußte stets, wo Aini war, und Aini wußte stets, wo der Junge war. Das nahm so seinen Fortgang, bis sie beide begannen heranzuwachsen.
Aini war ein recht großes Mädchen. Der Bursche spielte mit Aini. Eines griff das andere. Der Bursche packte Aini um die Schultern, griff ihr auf die Brust. Der Bursche sagte: »Aini, weshalb hast du eine so hohe Brust? Aini, sieh, meine Brust ist ganz flach.« Aini sagte: »Ich weiß es nicht, laß das!« Eine alte Frau kam vorbei. Sie lachte und sagte zum Burschen: »Dein Freund ist eben ein Mädchen.« Aini ging fort. Der Bursche folgte ihr. Aini ging in den Wald. Aini weinte. Aini setzte sich auf einen Baumstamm. Der Bursche setzte sich neben Aini. Sie sprachen miteinander. Sie schworen, sich einander später zu heiraten. – Von dem Tage an spielten Aini und der Bursche nicht mehr miteinander. Aini und der Bursche vermieden es, sich in Gegenwart anderer zu treffen. Die Leute sahen das.
Die Leute kamen zu Ainis Vater und sagten: »Höre, dein Sohn Aini ist nicht mehr so vergnügt wie früher. Aini drückt sich mit seinem Freund immer in den Winkeln umher. Die beiden Freunde sind so wie ein Bursch und ein Mädchen, die sich heiraten wollen.« Ahmar sagte bei sich: »Hooo! also so geht diese Freundschaft! Da will ich eine Änderung treffen.« Und Ahmar nahm Aini in eine Kammer und gab Aini Beschäftigung in der Kammer und erlaubte Aini nicht mehr, das Gehöft zu verlassen. Aini saß nun also immer daheim, und wenn der Bursche, Ainis Freund, an das Gehöft klopfte und fragte, ob er Aini nicht sprechen oder sehen könnte, wurde ihm stets gesagt: »Aini ist zu beschäftigt.«
Der Bursche ging aber abends um das Gehöft und horchte an den Mauern, um zu hören, in welcher Kammer Aini lebte. Nach kurzer Zeit wußte er, wo Aini wohnte, und als alle schliefen, warf er Steine in das Fenster. Ein Stein traf Aini. Aini erhob sich, sah zum Fenster heraus und erkannte den Burschen. Aini sprach mit dem Burschen. So sprachen sich Aini und der Bursche viele Tage lang jeden Abend, ohne daß
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