Das Schattenbuch
rechten Seite wenigstens einen
Funken Leben verlieh.
Zwischen den Suchenden und ihrem nächsten Ziel befand
sich eine Fußgängerampel. Und die zeigte Rot. Lioba
wäre geradewegs über die Straße gelaufen, wenn
der Verkehr es zugelassen hätte. Doch so mussten sie ein
paar Sekunden warten, bis die Ampel endlich auf Grün sprang.
Lioba lief sofort los, rempelte Passanten an, hastete auf die
Haustür der Zuckerbergstraße 3 zu, drückte
dagegen, verschwand im dunklen Inneren. Arved beeilte sich, ihr
zu folgen.
Wieder erster Stock, wieder rechts vom Treppenhaus die erste
Tür. Lioba klopfte, wartete keine Antwort ab, drückte
gegen die Tür, in der wie ein Fenster ins Buchstabenland das
Messingschild der Verwaltungsfirma klebte. Jetzt standen sie in
dem staubigen Büro, in dem gerade eine ältere Frau in
einem Kleid, das verdächtig dem von Lioba ähnelte, ihre
Sachen zusammenpackte und bereits die Handtasche umgehängt
hatte. Sie hob abwehrend die Hände, als sie die beiden
späten Besucher sah. »Für heute ist Feierabend.
Ich muss Sie bitten, morgen wiederzukommen.«
»Aber…«, begann Lioba.
»Es tut mir Leid«, fiel ihr die Frau ins Wort.
»Ich gehe jetzt nach Hause.«
Arved stellte sich vor Lioba und sagte sanft: »Wir
müssten morgen eigens aus Manderscheid anreisen. Sie
würden uns eine große Mühe ersparen. Wir
interessieren uns nur für einen früheren Mieter eines
Ihrer Objekte. Es handelt sich um die Riverisstraße. Dort
wohnte ein gewisser Thomas Carnacki, der erst vor wenigen Monaten
ausgezogen ist. Wenn Sie uns seine neue Adresse geben
könnten, wären wir Ihnen sehr dankbar.«
»Wofür brauchen Sie die denn? Ich kann nicht
einfach Adressen herausgeben. Bitte gehen Sie jetzt.« Die
ältliche Sekretärin nahm ihren Schlüsselbund vom
Schreibtisch, warf ihn in die Handtasche und stellte sich vor
Arved und Lioba. »Oder muss ich erst die Polizei
rufen?«
»Es geht… um eine sehr traurige
Angelegenheit«, beeilte sich Arved zu sagen und
überlegte fieberhaft, was für eine Angelegenheit das
sein könnte. »Herr Carnacki… seine Tochter
ist… unsere Klientin.« Jetzt hatte er die Geschichte
im Kopf. »Sie werden verstehen, dass wir aus Gründen
des Mandantenschutzes keine Einzelheiten mitteilen dürfen,
aber so viel sei gesagt: Es geht um Kindesmissbrauch. Es war sehr
schwierig, die vorige Adresse von Herrn Carnacki
herauszubekommen.
Ich sage ›die vorige‹, weil er dort nicht mehr
wohnt. Wir kommen soeben aus der Riverisstraße und mussten
feststellen, dass dort seit einigen Monaten ein Herr… ein
Herr…«
»Manfred Schult«, sprang Lioba ihm bei.
»Richtig, vielen Dank, Frau Kollegin, ein Herr Manfred
Schult wohnt. Ich bin sicher, Sie haben die neue Adresse von
Herrn Carnacki, nicht wahr? Sie sind doch bestimmt sehr gut
organisiert hier, oder? Und Sie wollen sicherlich dabei helfen,
dass ein Kinderschänder seiner gerechten Strafe
zugeführt wird. Es wäre Ihnen doch sehr peinlich, wenn
sich die Polizei die Informationen bei Ihnen unter Zwang holen
und dann auch noch die Presse davon Wind bekommen würde,
oder?« Er wunderte sich selbst über seine
plötzlich aufgeblühte Phantasie. Eine Welle des
Glücks und der Zufriedenheit erfasste ihn.
Die Sekretärin sah zuerst Arved, dann Lioba von oben bis
unten an. Es war deutlich zu erkennen, dass sie diese beiden
Gestalten einfach nicht unter einen Hut bekam. Dann schluckte
sie, schaute kurz auf ihre Armbanduhr und ging zu einem
Registraturschrank, der im hinteren Teil des sehr einfach
gehaltenen Büros zwischen zwei hohen Sprossenfenstern
stand.
»Wie schreibt man das?«, fragte sie über die
Schulter. Lioba blinzelte Arved anerkennend zu.
»Mit einem C vorn und einem C-K hinten«,
erklärte er.
»Tut mir Leid, einen solchen Mieter haben wir nicht und
hatten wir nie.« Die graue Frau ließ die Finger
zögerlich durch die Hängeregistratur gleiten.
»Das muss aber sein«, brummte Arved und stellte
sich neben die Sekretärin.
»Ja, doch, hier ist die Akte, sie war falsch
eingeordnet, noch bei B.« Sie warf einen scheelen
Seitenblick auf Arved und gab sie ihm. Es handelte sich um einen
grauen Aktendeckel mit der Aufschrift Carnacki, Thomas. Arved schlug ihn auf.
Er war leer.
»Da hat jemand ganze Arbeit geleistet«, murmelte
er und bedachte die Sekretärin mit einem dunklen Blick.
»Das wirft kein gutes Licht auf Ihre Verwaltung.«
Die Frau senkte den Kopf und
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