Das Schattenkind
wollte er in ihren Gedanken lesen. Obwohl ihr Samuels Bruder an und für sich sympathisch war, fühlte sie sich reichlich u n wohl in ihrer Haut. Sie befürchtete, daß in ihrem Gesicht nur zu deu t lich geschrieben stand, warum sie nach Thorburn Hall geko m men war.
Er stieß heftig den Atem aus. "Vielleicht sind Sie für meinen Ne f fen die richtige Person", meinte er. "Hin und wieder muß man völlig neue Wege gehen." Er trommelte mit den Fingern der rechten Hand auf die Schreibtischplatte. "Könnten Sie sich vorstellen, einen fünfjährigen Jungen zu betreuen, Miß N e wman?"
Laura wurde es für einen Augenblick schwindlig. Sie brauchte ihre ganze Kraft, um zu atmen. Es schien ihr, als seien ihre geheimsten Wünsche in Erfüllung gegangen. "Ich traue es mir zu, Mister Tho r burn", sagte sie und zwang sich, ihre Stimme nicht zittern zu lassen. Sie würde bei David sein, konnte dafür sorgen, daß ihm nichts pa s sierte.
Jonathan erhob sich erneut. Er ging um den Schreibtisch herum. "Ich will Ihnen nicht verhehlen, daß es sich bei David um ein etwas schwieriges Kind handelt. Zudem hat mein Neffe seinen Vater abgö t tisch geliebt und leidet sehr unter seinem Verlust. Schlimm ist es auch für David, daß er nicht nur seinen Vater verloren hat, sondern auch noch seine Gouvernante. Miß Eden kam zu uns, als mein Neffe knapp ein Jahr alt war. Sie sind einander sehr ve r bunden."
"Ich hörte von dem Autounfall, Mister Thorburn", sagte Laura. Ihr wurde bewußt, daß sie Samuels Bruder noch nicht einmal kondoliert hatte. "Erlauben Sie mir bitte, daß ich Ihnen noch nachträglich mein tiefes Mitgefühl au s sprechen."
"Schon gut", bemerkte er kurz. "Sprechen wir nicht mehr davon." Er richtete seinen Blick auf das Porträt, das über dem Kamin hin. "Wie gesagt, David, der jetzige Lord Thorburn, ist ein etwas schwieriges, in sich gekehrtes Kind. Obwohl Miß Eden ihn immer wieder mit anderen Kindern zusammengebracht hat, ist er am liebsten alleine. Hin und wieder leider er auch unter Alpträumen. Außerdem ist er überzeugt, daß er einen Zwilling s bruder namens Manuel hat."
"Manuel?" Laura glaubte für einen Moment, ihr Herz müßte au s setzen.
"Viele Kinder bilden sich einen unsichtbaren Spielkameraden ein", erklärte Jonathan Thorburn. "Ich habe darüber ausführlich mit einem Psychiater gesprochen. Es ist nichts, worüber man sich Sorgen machen sollte. Mit der Zeit wird auch bei David dieser angebliche Zwilling s bruder verblassen und einfach aufhören zu existi e ren."
"Könnte ich den Kleinen sehen?" fragte Laura und hoffte, daß ihr Mister Thorburn nicht anmerkte, wie nervös und aufg e regt sie war.
"Selbstverständlich. Ich werde Sie zu ihm führen. Man sagt, daß die erste Begegnung meistens die Entscheidende ist. Also warten wir ab, was g e schieht."
Die junge Frau folgte Jonathan Thorburn in den ersten Stock des Hauses. Ein kurzer Gang führte zu den Kinderzimmern. Der Verwalter öffnete die Tür zu einem sonnendurchfluteten Raum. Mit dem Rücken zu ihnen saß ein kleiner Junge an einem Tisch und malte.
"David!"
Der Junge drehte sich um. Er rutschte von seinem Stuhl und wollte seinem Onkel entgegenlaufen, doch dann sah er Laura. Seine blauen Augen wurden groß. Bevor die junge Frau noch wußte wie ihr geschah, hatte David bereits seine Ärmchen um sie geschlungen. Spontan drückte sie ihn an sich.
"Damit scheint alles entschieden zu sein", bemerkte Jonathan ve r blüfft. "Ab heute gehören Sie zum Haushalt der Thorburns, Miß N e wman."
"Heißt das, ich bin eingestellt?" Laura blickte auf. Verlegen bli n zelte sie die Tränen fort, die in ihre Augen traten. Es war das erste Mal, daß sie ihren Sohn in den Armen hielt. Sie konnte ihr Glück kaum fassen.
"Ja, das heißt es", bestätigte Davids Onkel und ergriff ihre Hand.
7.
Laura kehrte nach Little Bridge zurück, um ihre Sachen von den Willis' abzuholen. Ihre Wirtin machte große Augen, als sie ihr sagte, daß Jonathan Thorburn sie als neue Gouvernante für den kleinen Lord David eing e stellt hatte.
"Warum haben Sie gestern kein Wort davon gesagt, daß Sie auf Thorburn Hall eine Stelle suchen?" fragte Mary Willis und ließ durc h blicken, daß sie sich Sorgen wegen ihrer Äußerungen über Lady Ireen machte.
"Ich wußte noch nicht, ob ich die Stelle bekommen würde", an t wortete Laura. "Im übrigen bleibt alles, was wir gestern abend gespr o chen haben, unter uns, Mistress Willis."
"Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, aber ..." Mary
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