Das Schicksal der Paladine - Gejagt (German Edition)
abzuschätzen, wie lange es noch bis zum Morgengrauen dauern mochte.
Soldaten waren in kleinen Trupps unterwegs und klopften an jede Tür. Jeder verbliebene Bewohner wurde aufgefordert, sich durch das Westtor in Sicherheit zu bringen. Martin erkundigte sich bei einem solchen Trupp nach Vinjala, aber keinem war eine Paladjur aufgefallen. Er hetzte weiter zum Osttor und dort nordwärts an der Mauer entlang bis zu der Stelle, wo der Blitz des untoten Paladins eine besonders breite Bresche ins Mauerwerk gerissen hatte, die nur notdürftig mit einer Barrikade aus Mobiliar und Trümmerstücken verfüllt worden war. Tatsächlich lagen hier noch immer einige Verletzte und jemand erinnerte sich auch an ein Mädchen, das ihn geheilt hatte. Aber als Martin schon hoffte, endlich einen Hinweis auf Vinjala gefunden zu haben, stellte sich heraus, dass derjenige Tiana meinte. Martin wollte schon aufgeben, da erzählte einer der Verletzten ihm von einem behelfsmäßigen Feldlazarett, das man auf einem nahen Platz eingerichtet hatte. Dort, beschloss Martin, würde er noch suchen. Der Gedanke, Vinjala zurücklassen zu müssen, behagte ihm ganz und gar nicht, aber die anderen brauchten ihn, wenn es auf der Flucht zu einem Kampf kam.
Das Lazarett war in einem großen Zelt untergebracht, aus dem Martin die Laute entgegenschlugen, die den Krieg abseits der Schlachtfelder ausmachten: Schmerzensschreie, verzweifeltes Klagen, Wimmern und Stöhnen. Einige Mediker liefen umher und versorgten die zahlreichen Verwundeten auf den provisorischen Lagern, aber die hiesigen Ärzte konnten den Schwerverletzten, die man herbrachte, mit ihren primitiven Werkzeugen und dem bisschen Magie und Alchemie, das ihnen zu Gebote stand, kaum helfen. Ein paar Öllampen verbreiteten schummriges Licht und Martin blickte sich um, ging an den Reihen der Verletzten vorbei. Erschrocken fuhr er zusammen, als sich eine Hand in sein Hosenbein krallte.
Eine junge Frau in Kampfmontur lag da. Blut rann oben aus ihrem Brustharnisch und sammelte sich am Hals. Die Rüstung wies unterhalb ihrer Brüste einen klaffenden Riss auf. Sie lag offensichtlich im Sterben: die Haut bleich, der Blick verschwommen, ein dünner Blutfaden sickerte aus ihrem Mundwinkel. Martin kniete sich neben sie und ergriff die Hand, mit der sie sein Hosenbein gepackt hielt. Sie war kalt. Gerne hätte Martin etwas von seinen Kräften gegeben um sie zu retten, doch diese Gabe der Paladine war ihm versagt geblieben. Er beugte sich vor, als sie den Mund öffnete, um etwas zu sagen.
»Kommt die Paladjur noch?«, fragte sie mit brüchiger Stimme.
Martin schämte sich im Angesicht der Sterbenden Freude zu empfinden. »Ist sie hier? Ein junges Mädchen, groß gewachsen, lockige Haare ...«
Die Gardistin nickte schwach und Martin musste sich beherrschen, um nicht dem Drang nachzugeben, aufzuspringen und sich wieder umzusehen. »Kommt sie?«, fragte die Gardistin noch einmal und verzog vor Schmerzen das Gesicht.
»Vinjala?« Nun stand Martin doch auf, nur sie konnte die Frau noch retten. »Vinjala, bist du hier?«
Eine Bewegung am anderen Ende des Zeltes. »Martin?«, tönte es schwach über das allgegenwärtige Wimmern. »Gleich, ich ...«
»Hier stirbt jemand«, rief Martin eindringlich.
»Hier auch«, sagte eine Medikerin, die sich um den Verwundeten neben der Gardistin kümmerte, voll Bitterkeit. »Und da drüben auch, überall hier im Zelt wird gestorben, Mann. Lass das Mädchen dort helfen, wo es gerade ist.«
Die Hand der Gardistin krampfte sich um Martins und er wandte sich ihr wieder zu. Sie sah ihn mit flackerndem Blick an. »Schütze die Stadt«, flüsterte sie, dann sank ihr Kopf zur Seite.
Martin seufzte und schloss ihr die Augen in dem Wissen, ihren letzten Wunsch nicht erfüllen zu können. »Mögen die Götter dir gnädig sein.«
Vinjala kam herbeigeeilt und verzog traurig den Mund, als sie sah, dass es zu spät war. Sie sah kaum besser aus als Tiana vorhin, hielt sich aber tapfer. »Was ist, Martin? Warum bist du gekommen?«
Martin sprach leise. »Wir müssen fort. Die Nekromanten fordern unsere Auslieferung, der Oberst lässt die Stadt räumen. Ich habe einen Fluchtplan.«
»Aber all die Verletzten, sie ...« Vinjala blickte verzweifelt zu den nächsten Decken. Auf einigen lagen Tote, doch wer noch lebte, sah hoffnungsvoll in ihre Richtung, flehend, der Nächste zu sein, dem sie half.
»Du solltest dein Gesicht sehen, Vinjala, du kannst nicht mehr viele heilen. Bald wirst du selbst
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