Das Schicksal der Zwerge
gelangte er an die Drahtseile und hielt sich daran fest. Geschickter als jeder, der ihn von der Bühne kannte, es vermutet hätte, ließ er sich rasch in das Loch hinab und näherte sich dem blauen Licht.
An manchen Stellen der Spundwände sickerte Seewasser in kleinen Rinnsalen durch Lücken, an anderen Stellen schössen fingerdicke Strahlen zwischen vernieteten Elementen hervor und trafen auch ihn. Aber die Wände hielten, sie knarrten nicht einmal. Lediglich Rost hatte sich gebildet und war in dicke, blättrige Schichten gewachsen. Vermutlich war der Schacht nicht für eine solch lange Lebensdauer ausgelegt gewesen. Rodario konnte nicht ermessen, was die Weyurner gegen den Verfall der Wände auszurichten vermochten. Und die Zwerge hatten Besseres zu tun, als die Stellen auszubessern. Sie kämpften in den Gebirgen um ihre Existenz. Gegen Drachen. Gegen den Kordrion.
Der Grund befand sich nur noch zehn Schritte von ihm entfernt. Er war mit Planken ausgelegt worden, damit die Prinzessin nicht im Schlamm versank.
Rodario hielt den Atem an und krallte sich an das Seil.
Loytan hatte die Wahrheit gesprochen: Coira war nackt bis auf den Stulpenhandschuh um ihren rechten Unterarm.
Sie schwebte in der Mitte des Schachtes in dem blauen Leuchten, und ihre langen schwarzen Haare bewegten sich, als befänden sie sich unter Wasser. Die junge Frau hatte die Augen geschlossen und lächelte. Sie genoss die Energien, in denen sie badete und die sie trugen.
Rodario ergötzte sich an dem Anblick und fragte sich, wann er wohl jemals wieder einen dermaßen vollendeten Frauenkörper entblößt vor sich sehen dürfte. Merkwürdig fand er, dass sie den einen Handschuh nicht abgelegt hatte.
Urplötzlich überfiel ihn die Scham. Es war nicht rechtens, was er tat. Ich werde sie für mich erobern, beschloss er und wandte die Augen betreten ab. Dann begann er mit dem Aufstieg und zog sich Stückchen für Stückchen nach oben. Das nächste Mal, wenn er Coira entblößt sah, sollte sie sich nur für ihn und aus freien Stücken entkleiden. »Haltung«, sagte er leise zu sich selbst. »Haltung ist das Wichtigste.«
In dem Augenblick wurden über ihm aufgeregte Rufe laut.
Rodario fühlte gleichzeitig heiße und kalte Wogen über seinen Rücken jagen: Die Wachen hatten ihn bei seiner unentschuldbaren Tat entdeckt!
VI
Das Geborgene Land, Protektorat West-Gauragar, Hochheiligstadt, 6491. Sonnenzyklus, Winter.
Vier Leuchter standen in dem gemauerten Keller verteilt und spendeten den etwa zwanzig versammelten Männern und Frauen spärliches Licht.
Die meisten waren froh, wenn ihre Züge nicht allzu genau zu erkennen waren. Die schlichte Kleidung verriet nichts über den Stand oder die Herkunft ihres Trägers, die Kapuzen hüllten die Gesichter vorsichtig in Schatten.
Sie befanden sich unter dem Haus des Schultheißen, der wiederum zwei Stockwerke über ihnen schlafend in seinem Bett lag und nichts von dem wissen wollte, was hier vor sich ging. Sein Mut reichte nur dazu aus, die dicke Eisentür zum Gewölbe unverschlossen zu lassen.
Mallenia saß im Kreis ihrer Verschwörerfreunde und weigerte sich zu verstehen, was sie soeben aus dem Mund von Frederik gehört hatte. »Der Dritte lebt noch?« Sie atmete tief ein, auch wenn es sie Überwindung kostete. Die Luft war warm und abgestanden, roch nach Schweiß und Essen. Die Zusammenkunft zwischen Sauerkrautfässern, Obst und Marmeladengläsern sowie Räucherschinken und Bottichen voller Salzfleisch dauerte schon eine Weile, weil viel und heftig geredet wurde.
Frederik, ein unbescholtener Fleischer in Hochheiligstadt, dem man niemals zugetraut hätte, dass er sich gegen die Vasallenherrscher und die Albae auflehnte, nickte betreten. Er war Anfang Dreißig und hatte ein viel zu harmloses Gesicht für seine rohe Zunft und die gefährliche Aufrührerei. »Es stimmt, Herrin. Hargorin reitet wieder an der Spitze der Schwarzen Schwadron und zieht den Zehnten ein. Man sagt, dass er seine Krieger rücksichtsloser denn jemals zuvor antreibt.« Er nahm ein zusammengefaltetes Blatt aus dem Aufschlag seines Hemdsärmels hervor und reichte es ihr. »Lest. Die Prämie auf Euren Kopf wurde erhöht. Wer ihn bei Hargorin abliefert, darf sich aus seiner Schatzkammer nehmen, was immer ihm gefällt.«
Mallenia betrachtete ihr gezeichnetes Gesicht auf dem zerknitterten Papier, das dem echten erschreckend genau glich; darunter stand die Zahl 1000. Das war viel Gold. »Man sagt, dass Hargorin Gegenstände von
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