Das Schicksal in Person
vielleicht bilde ich mir das alles auch nur ein«, dachte Miss Marple. »Vielleicht sind all diese Dinge ganz bedeutungslos.«
Auf einmal kam ihr das Wort »Gefahr« in den Sinn. Mr Rafiel hatte es in seinem ersten Brief erwähnt, und er hatte in seinem zweiten Brief gemeint, dass sie vielleicht einen Schutzengel brauchen könne. Ob ihr Gefahr drohte? Aber von wem?
Sicherlich nicht von Miss Cooke und Miss Barrow. Die machten beide einen ganz harmlosen Eindruck. Und trotzdem: Miss Cooke hatte ihr Haar gefärbt und ihre Frisur geändert. Sie hatte ihr ganzes Aussehen verändert. Und das war doch wirklich merkwürdig.
Noch einmal ging sie die ganze Reihe ihrer Mitreisenden durch. Mr Caspar, ja, den könnte man viel eher für gefährlich halten. Verstand er wirklich so wenig Englisch, wie er tat? Was Ausländer betraf, war Miss Marple immer noch sehr altmodisch. Man konnte nie wissen, was hinter ihnen steckte. Natürlich war es Unsinn, so zu denken, denn sie hatte sehr viele ausländische Freunde. Und trotzdem…
Miss Cooke, Miss Barrow, Mr Caspar und dieser junge Mann Emlyn mit dem unordentlichen Haar – ein Revolutionär, ein Anarchist? Und dann Mr und Mrs Butler, diese reizenden Amerikaner. Aber vielleicht wirkten sie harmloser, als sie waren?
»Ach was«, sagte Miss Marple laut, »nimm dich zusammen.«
Sie beschäftigte sich mit den Einzelheiten des Reiseprogramms. Der morgige Tag würde sehr anstrengend werden. Man würde früh aufstehen, um einige Sehenswürdigkeiten in der Umgebung anzuschauen, und dann war eine lange Wanderung an der Küste geplant. Diejenigen, die sich ausruhen wollten, konnten im Hotel, dem Golden Boar, zurückbleiben. Dort gab es einen hübschen Garten, außerdem konnte man einen einstündigen Ausflug in eine landschaftlich besonders reizvolle Gegend machen. Miss Marple nahm sich vor, diesen Vorschlag in Erwägung zu ziehen.
Sie konnte jedoch nicht ahnen, dass ihre Pläne plötzlich eine ganz andere Wendung nehmen sollten.
Als Miss Marple am nächsten Tag aus ihrem Hotelzimmer in die Halle kam, um zum Mittagessen zu gehen, kam auf einmal eine Dame im Tweedmantel auf sie zu und fragte:
»Verzeihen Sie, sind Sie Miss Marple – Miss Jane Marple?«
»Ja, die bin ich«, sagte Miss Marple überrascht.
»Ich bin Mrs Glynne, Lavinia Glynne. Ich wohne hier in der Nähe, mit meinen beiden Schwestern, und wir haben gehört, dass Sie kommen und…«
»Sie haben gehört, dass ich hierher komme?«, fragte Miss Marple erstaunt.
»Ja. Ein guter alter Freund schrieb es uns, schon vor einer ganzen Weile, etwa vor drei Wochen. Er bat uns, den Tag zu notieren, an dem die Reisegesellschaft der Famous Houses and Gardens hierher käme. Er schrieb, eine alte Freundin würde die Reise mitmachen.«
Miss Marple konnte ihre Überraschung nicht verbergen.
»Ich spreche von Mr Rafiel«, sagte Mrs Glynne.
»Oh, Mr Rafiel«, rief Miss Marple. »Sie wissen, dass er…«
»Dass er tot ist? Ja. Sehr traurig. Kurz nachdem der Brief kam, ist er gestorben. Deswegen möchten wir auch unbedingt tun, worum er uns gebeten hat. Er meinte, dass Sie vielleicht gern ein paar Tage zu uns kämen. Gerade dieser Teil der Reise ist sehr anstrengend, besonders für ältere Menschen. Lange Wanderungen und beschwerliche Kletterpartien an der Küste. Meine Schwestern und ich würden uns sehr freuen, wenn Sie zu uns in unser Haus kämen. Es sind nur zehn Minuten zu Fuß. Wir könnten Ihnen sicher hier in der Gegend viele interessante Dinge zeigen.«
Miss Marple zögerte. Mrs Glynne wirkte sympathisch: rundlich, gutmütig und freundlich, dabei etwas scheu. Mr Rafiel hatte offenbar den Wunsch gehabt, dass sie zu den Schwestern gehen solle. Sie stellte fest, dass sie auf einmal nervös wurde. Vielleicht, weil sie sich nun schon an die Reisegesellschaft gewöhnt und eine Art Zusammengehörigkeitsgefühl hatte? Sie sagte zu Mrs Glynne, die sie fragend anschaute:
»Vielen Dank, das ist sehr nett. Ich nehme Ihre Einladung gerne an.«
7
M iss Marple schaute aus dem Fenster. Hinter ihr, auf dem Bett, lag ihr Koffer. Sie blickte in den Garten hinunter, aber sie war mit ihren Gedanken viel zu beschäftigt, um wirklich aufzunehmen, was sie sah. Es geschah nicht oft, dass sie einen Garten nicht ganz genau betrachtete, entweder bewundernd oder kritisch. In diesem Fall wäre wahrscheinlich ihre Kritik geweckt worden. Es war ein vernachlässigter Garten, in den in den letzten Jahren weder viel Arbeit noch viel Geld hineingesteckt
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