Das Schicksal in Person
worden war. Auch das Haus machte einen verwahrlosten Eindruck. Dabei war es ein schöner Bau, und die Möbel hatten Qualität, aber man sah ihnen an, dass sie lange nicht poliert worden waren. Man merkte diesem Haus an, dass sich in den letzten Jahren niemand wirklich darum gekümmert hatte. The Old Manor House, das alte Herrenhaus – der Name passte. Ein anmutiger Bau, der einst mit Leben erfüllt gewesen war. Doch dann hatten die Töchter und Söhne geheiratet und das Elternhaus verlassen. Und nun lebte Mrs Glynne hier, die – das hatte sie Miss Marple auf dem Weg hinauf ins Schlafzimmer erzählt – den Besitz gemeinsam mit ihren Schwestern von einem Onkel geerbt hatte. Nachdem ihr Mann gestorben war, war sie hierher gekommen und lebte nun mit ihren Schwestern zusammen. Sie seien natürlich auch alle nicht jünger geworden, meinte Mrs Glynne, das Einkommen habe sich verringert, und es sei schwierig, Leute zu finden. Die andern beiden Schwestern waren offensichtlich unverheiratet, die eine war älter, die andere jünger als Mrs Glynne, sie hießen Bradbury-Scott.
Anzeichen dafür, dass hier auch Kinder lebten, konnte Miss Marple nicht entdecken. Kein kaputter Ball, kein Kinderwagen, kein kleiner Tisch oder Stuhl. Ein Haus mit drei Schwestern, nichts weiter.
»Das klingt ja fast russisch«, murmelte Miss Marple vor sich hin. »Die drei Schwestern.« War es Tschechow oder Dostojewski? Es fiel ihr nicht ein. Aber diese drei Schwestern würden wohl kaum Sehnsucht haben, nach Moskau zu reisen. Diese drei Schwestern, das schien ihr so gut wie sicher, waren zufrieden, zu bleiben, wo sie waren. Als sie ankam, hatte sie die beiden anderen kennen gelernt. Sie waren das, was man früher mit dem heute altmodisch klingenden Namen »Dame« bezeichnet hätte. Vornehme Damen, die es heute nicht mehr leicht hatten. Doch auch nicht allzu schwer, denn sie wurden ja meist von der Regierung oder von wohltätigen Organisationen unterstützt oder auch von reichen Verwandten. Vielleicht auch von einem Mann wie Mr Rafiel. Immerhin hatte ja Mr Rafiel die ganze Angelegenheit arrangiert und sich eine Menge Mühe damit gemacht. Sie hatte den Eindruck, dass sie der Lösung des Rätsels etwas näher gekommen war. Ihr wurde allmählich klar, worin ihre Aufgabe bestand. Mr Rafiel war ein Mann, der alle Dinge im Voraus plante. Er wusste, dass er sterben würde, und hatte vorher alle Dinge geordnet. Um seine Finanzen zu ordnen, hatte er seine Anwälte und Angestellten. Doch sicher gab es für ihn auch Probleme, die er nicht mit Hilfe von Anwälten regeln konnte.
Und um ein solches Problem musste es sich hier handeln, deswegen hatte er sich an sie gewandt.
Eigentlich war sie darüber immer noch erstaunt. Sehr sogar. Doch wenn sie es sich jetzt überlegte, war sein Brief sehr deutlich gewesen. Er war der Ansicht, dass sie die Voraussetzungen mitbrachte, um etwas ganz Bestimmtes zu tun. Etwas, das wahrscheinlich mit einem Verbrechen zusammenhing. Das einzige, was er sonst noch von ihr wusste, war, dass sie eine große Gartenliebhaberin war. Doch um ein gärtnerisches Problem konnte es sich in diesem Fall kaum handeln. Miss Marple seufzte. Sie würde sehr viel Glück brauchen, um weiterzukommen. Und nicht nur das; es würde ein hartes Stück Arbeit werden, sie würde sehr viel nachdenken und abwägen müssen. Und vielleicht würde die ganze Sache auch gefährlich werden. Und sie müsste alles selbst herausbekommen, sie würde von ihm nichts erfahren. Vielleicht, weil er sie nicht beeinflussen wollte. Es könnte sein, dass Mr Rafiel seinen Standpunkt für falsch hielt. Das war zwar gar nicht typisch für ihn, so zu denken, aber es könnte immerhin möglich sein. Vielleicht war er der Ansicht, dass seine Urteilsfähigkeit durch die Krankheit gelitten hatte. Deswegen sollte sie, Miss Marple, zu ihren eigenen Schlüssen kommen. Und das war jetzt auch die Hauptsache, sie musste zu einem Schluss kommen. Mit anderen Worten, zurück zur alten Frage: Was hatte das alles zu bedeuten? Sie war in eine bestimmte Richtung gelenkt worden. Das war vor allem zu bedenken. Sie war von einem Mann gelenkt worden, der jetzt tot war. Sie war von St. Mary Mead fortgeführt worden. Daher konnte ihre Aufgabe nichts mit ihrem Wohnort zu tun haben. Zuerst hatte man sie in ein Anwaltsbüro bestellt, dann bekam sie zwei Briefe, und dann wurde sie auf eine Reise in eine bestimmte Gegend Englands geschickt. Und nun war sie in dieses Haus dirigiert worden, The Old Manor House,
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