Das Schicksal in Person
Sorgen. Sie ist oft so geistesabwesend, manchmal läuft sie weg und weiß dann gar nicht mehr, wo sie ist.«
»Das ist aber sehr traurig.«
»Dabei wäre es gar nicht notwendig.«
»Vielleicht hat sie finanzielle Probleme«, meinte Miss Marple.
»Nein, damit hat es nichts zu tun. Sie macht sich Sorgen um den Garten. Sie denkt immer daran, wie er einmal war, und sie möchte so gern Geld hineinstecken, damit er wieder so aussieht wie früher. Clotilde hat ihr erklärt, dass man sich so etwas heute nicht mehr leisten kann. Aber sie redet ständig vom Treibhaus, von den Pfirsichen, die dort wuchsen, von den Trauben und all diesen Dingen.«
»Und dem Heliotrop?«, fragte Miss Marple.
»Dass Sie sich daran erinnern? Dieser herrliche Duft! Und die Weinstöcke mit den kleinen, süßen Trauben. Ach ja, man sollte nicht zu viel an die Vergangenheit denken.«
»Manchmal haben Sie es sicher nicht leicht mit Ihrer Schwester Anthea?«
»Nein, bestimmt nicht. Vor allem, weil sie Vernunftsgründe nicht gelten lässt. Clotilde ist ja immer sehr energisch mit ihr. Sie will von diesen Dingen nichts hören.«
»Es ist oft schwer zu entscheiden, wie man sich verhalten soll«, sagte Miss Marple. »Soll man hart bleiben oder schimpfen oder versuchen zu verstehen? Soll man zuhören und Hoffnungen erwecken, die sich vielleicht nicht erfüllen lassen? Es ist wirklich nicht leicht.«
»Für mich ist es einfacher, ich fahre immer wieder weg und bin nur ab und zu da. Deswegen kann ich mir auch eher etwas vormachen und glauben, dass alles besser wird und man vielleicht bald etwas unternehmen kann. Aber neulich, als ich wieder einmal nach Hause kam, hatte Anthea tatsächlich die Idee, einen Gartenarchitekten zu bestellen, der den Garten wieder in Ordnung bringen sollte. Sie wollte die Gewächshäuser wieder aufbauen lassen, was natürlich Unsinn ist, denn selbst wenn man jetzt Weinstöcke setzte, würden sie erst in ein paar Jahren Trauben tragen. Clotilde hatte nichts davon gewusst und war wütend, als sie den Kostenvoranschlag für die Arbeiten auf Antheas Schreibtisch entdeckte.«
»Es gibt heutzutage so viele Probleme«, sagte Miss Marple. Es war eine nützliche Redewendung, die sie gerne gebrauchte.
»Ich muss morgen ziemlich früh weg«, sagte sie dann. »Ich habe mich beim Golden Boar erkundigt. Dort ist der Treffpunkt. Wir brechen früh auf, soviel man mir sagte, um neun Uhr.«
»Hoffentlich ist es nicht zu anstrengend für Sie.«
»Nein, das glaube ich nicht. Wir fahren zu einem Ort namens Stirling St. Mary oder so ähnlich. Das soll nicht sehr weit weg sein. Unterwegs besichtigen wir eine interessante Kirche und ein Schloss. Nachmittags sind wir in einem Garten mit seltenen Blumen. Nach dem schönen, ruhigen Aufenthalt hier wird es wohl nicht zu anstrengend werden. Aber ich wäre sicher sehr erschöpft, wenn ich die letzten zwei Tage mit all den Klettereien und Wanderungen mitgemacht hätte.«
»Aber dann müssen Sie sich wenigstens heute Nachmittag ausruhen, damit Sie morgen frisch sind«, meinte Mrs Glynne, während sie ins Haus gingen. Als Clotilde ihnen entgegenkam, sagte sie: »Miss Marple hat sich eben die Kirche angesehen.«
»Leider gibt es da nicht viel zu sehen«, sagte Clotilde. »Scheußliche Glasfenster aus der Zeit um die Jahrhundertwende, für die man keine Ausgaben gescheut hat. Mein Onkel ist zum Teil auch daran schuld. Er war von den grellen roten und blauen Farben sehr begeistert.«
»Sehr grell und sehr gewöhnlich«, stimmte Lavinia Glynne zu. Miss Marple legte sich nach dem Mittagessen etwas schlafen und sah ihre Gastgeberinnen erst kurz vor dem Abendessen wieder. Nach dem Essen unterhielt man sich noch eine Weile, und dann war es Zeit, ins Bett zu gehen. Miss Marple hatte an diesem Abend viel von sich selbst erzählt, über ihre Jugend, ihre Reisen und die Menschen, die sie dabei kennen gelernt hatte.
Als sie ihr Zimmer betrat, war sie müde und hatte das Gefühl, nichts erreicht zu haben. Sie hatte nichts Neues erfahren – aber vielleicht gab es auch gar nichts mehr zu erfahren. Kein Fisch hatte angebissen – oder hatte sie bisher nur nicht den richtigen Köder ausgelegt?
10
A m nächsten Morgen wurde Miss Marple der Tee schon um halb acht gebracht, so dass sie genügend Zeit hatte, sich fertig zu machen und zu packen. Sie war gerade dabei, ihren kleinen Koffer zu schließen, als jemand heftig an die Tür klopfte. Clotilde trat aufgeregt ein.
»Oh, liebe Miss Marple, unten ist ein junger
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