Das Schicksal in Person
und Miss Barrow jetzt wohl taten. Hatten sie wirklich den Ausflug zu der Kirche gemacht oder war das nur ein Vorwand gewesen? Merkwürdig war es auf jeden Fall, dass die eine von ihnen nach St. Mary Mead gekommen war und anfangs geleugnet hatte, sie schon mal gesehen zu haben.
Es war alles wirklich sehr verzwickt. Mrs Glynne räumte jetzt das Teegeschirr ab, Anthea ging hinaus in den Garten, und Miss Marple blieb mit Clotilde allein.
»Ich glaube«, sagte Miss Marple, »Sie kennen Erzdiakon Brabazon, nicht wahr?«
»O ja«, sagte Clotilde. »Er war gestern in der Kirche beim Trauergottesdienst. Kennen Sie ihn auch?«
»Erst seit gestern«, sagte Miss Marple. »Er kam ins Hotel, um mich zu sprechen. Ich nehme an, er war im Krankenhaus, um sich nach den Umständen von Miss Temples Tod zu erkundigen. Er glaubte, dass Miss Temple vielleicht eine Nachricht für ihn hinterlassen hätte. Ich nehme an, sie wollte ihn besuchen. Leider konnte ich ihm auch nichts anderes sagen, als dass ich neben ihr am Bett gesessen hatte und nicht helfen konnte. Sie war ja bewusstlos. Ich konnte nichts für sie tun.«
»Sie hat nichts gesagt – irgendetwas –, das den Unfall erklären würde?«
Clotilde fragte ganz beiläufig, ziemlich uninteressiert. Miss Marple überlegte, ob sie sich verstellte, aber sie hatte eigentlich nicht den Eindruck. Clotilde war offenbar mit ihren Gedanken ganz woanders.
»Glauben Sie, dass es ein Unfall war?«, fragte Miss Marple. »Oder glauben Sie, dass an der Geschichte etwas Wahres ist, die Mrs Riseley-Porters Nichte erzählte? Sie hat doch jemand gesehen, der einen Steinbrocken loslöste.«
»Wenn die beiden das sagten, müssen sie es wohl gesehen haben.«
»Ja, sie haben es beide behauptet, wenn auch jeder mit anderen Worten«, antwortete Miss Marple. »Aber das ist ja ganz verständlich.«
Clotilde schaute sie fragend an.
»Sie machen sich Gedanken darüber?«
»Ja, es kommt mir so merkwürdig vor«, meinte Miss Marple. »Eine etwas unwahrscheinliche Geschichte. Es sei denn – «
»Es sei denn – «
»Ach, es ist mir nur gerade etwas durch den Kopf gegangen«, sagte Miss Marple.
Mrs Glynne kam wieder aus der Küche herein.
»Was ist Ihnen durch den Kopf gegangen?«, fragte sie.
»Wir sprechen gerade über den Unfall, der vielleicht keiner war«, sagte Clotilde.
»Aber wer – «
»Mir kommt diese Geschichte sehr merkwürdig vor«, sagte Miss Marple noch einmal.
Clotilde wechselte plötzlich das Thema. »Hier in diesem Haus stimmt etwas nicht«, sagte sie. »Irgendetwas liegt in der Luft… Schon lange. Seit Verity starb. Ein Schatten liegt über dem Haus.« Sie schaute Miss Marple an. »Spüren Sie es nicht auch, dass über uns ein Schatten liegt?«
»Ich bin eine Fremde«, sagte Miss Marple. »Für Sie und Ihre Schwestern ist das etwas anderes, denn Sie haben hier schon lange gelebt und kannten das tote Mädchen. Ich habe von Erzdiakon Brabazon gehört, dass es ein sehr reizendes und schönes Mädchen gewesen sein soll.«
»Sie war sehr lieb und sehr anhänglich«, sagte Clotilde.
»Mir tut es Leid, dass ich sie nicht besser gekannt habe«, meinte Mrs Glynne. »Ich lebte damals im Ausland, und wenn wir nach England zu Besuch fuhren, waren wir meistens in London. Wir kamen nicht sehr oft her.«
Anthea kam aus dem Garten zurück. Sie trug einen großen Strauß Lilien im Arm.
»Totenblumen«, sagte sie. »Die müssen wir heute im Haus haben. Ich stelle sie in eine große Vase. Totenblumen…« Sie lachte plötzlich. Ein sonderbares, hysterisches Kichern.
»Anthea«, sagte Clotilde. »Lass das – tu es nicht. Es ist – es ist nicht richtig.«
»Ich werde sie ins Wasser stellen«, rief Anthea fröhlich und verließ das Zimmer.
»Wirklich!«, sagte Mrs Glynne. »Ich glaube, sie ist – «
»Es wird immer schlimmer mit ihr«, sagte Clotilde.
Miss Marple tat, als habe sie nichts gehört. Sie nahm eine kleine Emaildose vom Tisch und betrachtete sie bewundernd.
»Sicher wird sie jetzt eine Vase zerschlagen«, sagte Lavinia und folgte ihr.
»Sie machen sich Sorgen um Ihre Schwester Anthea?«, fragte Miss Marple nun.
»Ja, sie war immer schon sehr labil. Sie ist die jüngste und war als Kind schon zart. Aber in letzter Zeit ist es wirklich schlimmer geworden. Den Ernst mancher Dinge begreift sie oft gar nicht. Dann bekommt sie solche hysterischen Anfälle. Sie lacht hysterisch, wenn es um etwas Ernstes geht. Wir möchten sie nicht – nun, wir wollen sie nicht irgendwo
Weitere Kostenlose Bücher