Das Schicksal ist ein mieser Verräter (German Edition)
weiter, in seinem Sessel fläzend, und die Wörter wurden immer runder in seinem betrunkenen Mund. »Kranke Kinder werden unweigerlich zum Stillstand gebracht: es ist euer Schicksal, euer ganzes Leben als das Kind zu leben, das ihr wart, als die Diagnose kam, das Kind, das daran glaubte, es gebe ein Leben nach dem Romanende. Und wir Erwachsene haben Mitleid mit euch, deshalb zahlen wir für eure Behandlung, für eure Sauerstoffmaschinen. Wir versorgen euch mit Essen und Trinken, obwohl es nicht wahrscheinlich ist, dass ihr lang genug lebt …«
»PETER!«, schrie Lidewij.
»Ihr seid die Nebenwirkung«, fuhr Van Houten fort, »eines Evolutionsprozesses, dem wenig am einzelnen Leben liegt. Ihr seid ein gescheitertes Experiment der Mutation.«
»ICH KÜNDIGE!«, schrie Lidewij. Sie hatte Tränen in den Augen. Doch ich war nicht wütend. Van Houten suchte nach der schmerzhaftesten Art, die Wahrheit auszusprechen, aber ich kannte die Wahrheit natürlich längst. Ich hatte jahrelang an die Decke gestarrt, in meinem Zimmer zu Hause oder auf der Intensivstation, und ich hatte die schmerzhaftesten Arten, mir meine eigene Krankheit auszumalen, längst gefunden. Ich ging auf ihn zu. »Jetzt hören Sie mal zu, Sie Arschgeige«, sagte ich, »Sie können mir nichts über Krankheiten sagen, was ich nicht längst weiß. Ich will nur eine einzige Sache von Ihnen, bevor ich für immer aus Ihrem Leben verschwinde: WAS WIRD AUS ANNAS MUTTER?«
Langsam hob er das schwabbelige Doppelkinn in meine Richtung und zuckte die Schultern. »Ich kann dir genauso wenig sagen, was aus ihr wird, wie ich dir sagen kann, was aus Prousts Erzähler oder Holden Caulfields Schwester oder Huckleberry Finn wird, nachdem er zu den Indianern aufbricht.«
»BLÖDSINN! Verdammter Blödsinn. Sagen Sie einfach irgendwas! Erfinden Sie es!«
»Nein, und ich wäre dir dankbar, wenn du in meinem Haus nicht fluchst. Das steht einer Dame nicht sehr gut.«
Ich war immer noch nicht richtig wütend, sondern nur darauf konzentriert zu bekommen, was er mir versprochen hatte. Doch irgendwas kochte in mir über, und plötzlich holte ich aus und schlug auf die aufgedunsene Hand, in der er das Scotchglas hielt. Was vom Scotch übrig war, spritzte ihm in das massige Gesicht, das Glas knallte ihm gegen die Nase, dann wirbelte es durch die Luft und zerbarst klirrend auf dem uralten Dielenboden.
»Lidewij«, sagte Van Houten ganz ruhig, »ich hätte gern einen Martini, wenn es geht. Nur eine Spur Wermut.«
»Ich habe gekündigt«, sagte Lidewij nach einem Moment.
»Sei nicht albern.«
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Die nette Tour hatte nicht funktioniert. Die harte Tour hatte nicht funktioniert. Doch ich brauchte die Antwort. Ich war den ganzen Weg hergekommen, hatte Augustus’ Herzenswunsch gekidnappt. Ich musste wissen, was nach dem Ende passierte.
»Hast du dich je gefragt«, sagte er inzwischen lallend, »warum du unbedingt eine Antwort auf deine kindischen Fragen haben willst?«
»SIE HABEN ES VERSPROCHEN!«, schrie ich und musste an Isaacs ohnmächtiges Heulen am Abend des Trophäenmassakers denken. Doch Van Houten antwortete nicht.
Ich stand immer noch über ihm und wartete auf eine Antwort, als ich spürte, wie Augustus die Hand auf meinen Arm legte. Er zog mich weg, Richtung Tür, und ich folgte ihm, während Van Houten sich hinter uns bei Lidewij über die Undankbarkeit der heutigen Jugend beschwerte und den Tod der wohlerzogenen Gesellschaft, und Lidewij halb hysterisch in prasselndem Niederländisch auf ihn einredete.
»Ihr müsst meine frühere Assistentin entschuldigen«, rief er uns nach. »Niederländisch ist weniger eine Sprache als eine Kehlkopfkrankheit.«
Augustus zog mich aus dem Wohnzimmer und durch die Tür hinaus in den späten Frühlingsmorgen und das fallende Konfetti der Ulmen.
So was wie einen schnellen Abgang gab es für mich nicht, aber wir schafften es die Treppe hinunter, indem Augustus den Sauerstoffwagen hielt, und dann machten wir uns auf dem hubbeligen Bürgersteig mit den versetzten Pflastersteinen auf den Rückweg zum Filosoof. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten musste ich weinen.
»Hey«, sagte er und legte mir die Hand auf die Hüfte. »Hey. Es ist okay.« Ich nickte und wischte mir die Tränen ab. »Er ist ein Dreckskerl.« Ich nickte wieder. »Ich schreibe dir ein Nachwort«, sagte Gus. Davon musste ich noch mehr weinen. »Wirklich«, sagte er. »Das mache ich. Und es wird besser als alles, was die blöde Saufnase
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