Das Schicksal ist ein mieser Verräter (German Edition)
nicht.«
»Er hat Probleme mit dem Gedächtnis«, sagte Lidewij
»Das Gedächtnis hat Probleme mit mir«, gab Van Houten zurück.
»Also, unsere Fragen«, wiederholte ich.
»Sie benutzt den majestätischen Plural«, sagte Van Houten zu niemand Bestimmtem. Noch ein Schluck. Ich wusste nicht, wie Scotch schmeckte, aber wenn er auch nur entfernt wie Champagner schmeckte, war es mir ein Rätsel, wie er so schnell so viel davon so früh am Morgen trinken konnte. »Kennst du Zenons Paradox?«, fragte er mich.
»Wir würden gern wissen, was nach dem Ende des Buchs aus den anderen Romanfiguren wird, insbesondere Annas …«
»Fälschlicherweise scheinst du davon auszugehen, dass ich deine Frage kennen muss, um sie zu beantworten. Kennst du den Philosophen Zenon?« Ich schüttelte langsam den Kopf. »O weh! Zenon war ein vorsokratischer Philosoph, von dem es heißt, er habe vierzig Paradoxe in der Weltsicht entdeckt, die Parmenides lehrte – Parmenides kennst du sicher«, sagte er, und diesmal nickte ich, als würde ich Parmenides kennen, was nicht stimmte. »Gott sei Dank«, sagte er. »Zenon hat sich darauf spezialisiert, die Ungenauigkeiten und Simplifizierungen in Parmenides’ Werk aufzudecken, was nicht schwer war, weil Parmenides immer und überall danebenhaute. Die Bedeutung von Parmenides ist so ähnlich wie die Bedeutung eines Bekannten, der beim Pferderennen immer aufs falsche Pferd setzt. Zenons wichtigstes … Wartet – erst will ich sehen, wie gut ihr euch mit schwedischem Hip-Hop auskennt.«
Ich wusste nicht genau, ob Peter Van Houten Witze machte oder nicht. Einen Moment später antwortete Augustus für mich: »Begrenzt.«
»Schön, aber ihr kennt sicher auch Afasi och Filthys bahnbrechendes Album Fläcken .«
»Kennen wir nicht«, sagte ich für uns beide.
»Lidewij, leg sofort ›Bomfalleralla‹ auf.« Lidewij ging zu einem MP3-Player, drehte ein bisschen am Rädchen, dann drückte sie den Knopf. Aus allen Richtungen dröhnte ein Rapsong. Er klang wie ein ganz normaler Rapsong, nur dass der Text schwedisch war.
Nach dem Song sah uns Peter Van Houten erwartungsvoll an, seine kleinen Augen bis zum Anschlag aufgerissen. »Ja?«, fragte er. »Ja?«
»Tut mir leid, Sir, aber wir sprechen kein Schwedisch.«
»Natürlich sprecht ihr kein Schwedisch. Ich auch nicht. Wer zum Teufel spricht schon Schwedisch. Das Wichtige ist nicht, welchen Quatsch die Stimmen sagen , sondern was die Stimmen fühlen . Ihr wisst doch sicher, dass es nur zwei Gefühle gibt, Liebe und Angst, und Afasi och Filthy bewegen sich mit einer Leichtigkeit zwischen beiden, die man außerhalb von Schweden im Hip-Hop einfach nicht findet. Soll ich es euch noch mal vorspielen?«
»Ich weiß nicht, ob Sie gerade Witze machen«, sagte Gus.
»Was?«
»Ist das so eine Art Performance?« Er sah zu Lidewij hoch. »Ist es das?«
»Ich fürchte, nein«, antwortete Lidewij. »Er ist nicht immer so – er ist heute ungewöhnlich …«
»Ach, halt den Mund, Lidewij. Rudolf Otto sagt, wer dem Numen nicht begegnet ist – wer noch keine irrationale Begegnung mit dem mysterium tremendum erlebt hat –, der sei für sein Werk nicht geeignet. Ich sage euch, junge Freunde, wenn ihr Afasi och Filthys bravouröse Inszenierung der Angst nicht hört, dann seid ihr für mein Werk nicht geeignet.«
Ich kann es nicht deutlich genug sagen: Es war ein vollkommen normaler Rapsong, nur dass er auf Schwedisch gesungen wurde. »Mhm«, sagte ich. »Also, noch mal zurück zu Ein herrschaftliches Leiden . Als das Buch aufhört, will Annas Mutter gerade …«
Van Houten unterbrach mich, wobei er an sein Glas tippte, bis Lidewij kam und es nachfüllte.
»Zenons berühmtestes Paradox ist das von der Schildkröte. Stellt euch vor, ihr lauft ein Wettrennen gegen eine Schildkröte. Die Schildkröte hat zehn Meter Vorsprung. In der Zeit, in der ihr zehn Meter lauft, läuft die Schildkröte vielleicht einen Meter. Und in der Zeit, die ihr für den Abstand braucht, läuft die Schildkröte wieder ein Stück weiter, und immer so weiter. Ihr seid schneller als die Schildkröte, aber ihr könnte sie nie einholen; ihr könnt nur den Vorsprung verringern.
In Wirklichkeit lauft ihr natürlich einfach an ihr vorbei, ohne euch über die mathematischen Feinheiten des Geschehens den Kopf zu zerbrechen, aber die Frage, wie ihr in der Lage dazu seid, ist überraschenderweise schrecklich kompliziert, und niemand hat sie richtig lösen können, bis Georg Cantor uns gezeigt hat,
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