Das Schicksal ist ein mieser Verräter (German Edition)
dass manche Unendlichkeiten größer sind als andere Unendlichkeiten.«
»Hm«, sagte ich.
»Ich nehme an, das beantwortet deine Frage«, sagte er zuversichtlich, dann trank er noch einen großzügigen Schluck aus seinem Glas.
»Eigentlich nicht«, widersprach ich. »Wir haben uns gefragt, was nach dem Ende von Ein herrschaftliches Leiden …«
»Ich nehme alles zurück, was ich in diesem scheußlichen Roman geschrieben habe«, erklärte Van Houten, indem er mir das Wort abschnitt.
»Nein«, sagte ich.
»Wie bitte?«
»Nein, das kann ich nicht akzeptieren«, sagte ich. »Ich verstehe, dass die Geschichte mitten im Erzählen endet, weil Anna stirbt oder zu krank wird, um weiterzuschreiben, aber Sie haben gesagt, Sie würden uns erzählen, was aus den anderen wird, und deswegen sind wir hier, denn es ist wirklich ungeheuer wichtig für uns – wichtig für mich –, dass Sie es uns erzählen.«
Van Houten seufzte. Nach einem weiteren Schluck sagte er: »Na gut. Wessen Geschichte willst du hören?«
»Die von Annas Mutter, dem Tulpenholländer, Sisyphus dem Hamster – ich meine, was aus allen wird.«
Van Houten schloss die Augen, blähte die Backen auf und ließ die Luft entweichen, dann sah er hinauf zu den rohen Balken, die kreuz und quer über die Decke liefen. »Der Hamster«, sagte er irgendwann. »Der Hamster wird von Christine adoptiert«, eine von Annas Vorkrebsfreundinnen. Das war nachvollziehbar. Christine und Anna hatten in ein paar Szenen zusammen mit Sisyphus gespielt. »Er wird von Christine adoptiert und lebt nach dem Romanende noch ein paar Jahre weiter, bis er friedlich im Hamsterschlaf stirbt.«
Jetzt kamen wir zur Sache. »Toll«, sagte ich. »Toll. Also gut, und der Tulpenholländer. Ist er ein Hochstapler? Heiratet Annas Mutter ihn?«
Van Houten starrte immer noch an die Deckenbalken. Er trank einen Schluck. Das Glas war schon wieder beinahe leer. »Lidewij, ich kann das nicht. Ich kann nicht. Ich kann nicht .« Er senkte den Blick und sah mich an. » Nichts passiert mit dem Tulpenholländer. Er ist kein Hochstapler und er ist nicht kein Hochstapler; er ist Gott . Er ist der unmissverständliche und unzweideutige metaphorische Stellvertreter Gottes , und die Frage danach, was aus ihm wird, ist das intellektuelle Äquivalent zu der Frage, was aus den körperlosen Augen von Dr. T. J. Eckleburg auf der Werbetafel in The Great Gatsby wird. Heiratet Annas Mutter ihn? Wir reden hier von einem Roman, liebes Kind, nicht von einem historischen Ereignis.«
»Schon, aber Sie haben doch sicher eine Vorstellung, was aus ihnen wird, also, als Figuren, also, unabhängig von ihrer metaphorischen Bedeutung oder so was.«
»Sie sind erfunden«, sagte er und tippte wieder an sein Glas. »Aus ihnen wird nichts.«
»Sie haben gesagt, Sie würden es mir erzählen«, drängte ich. Ich versuchte mich zu zwingen, positiv zu denken. Ich musste seine benebelte Aufmerksamkeit auf meine Frage richten.
»Vielleicht, doch ich stand unter dem falschen Eindruck, dass ihr nicht in der Lage wärt, über den Atlantik zu reisen. Ich habe versucht … dich zu trösten, schätze ich, aber ich hätte es besser wissen müssen. Ehrlich gesagt, diese kindische Idee, dass ein Schriftsteller irgendeinen besonderen Einblick in die Figuren seines Romans hätte … das ist doch lächerlich. Der Roman ist aus ein paar Strichen auf einem Blatt Papier entstanden, liebes Kind. Die Figuren, die ihn bevölkern, haben kein Leben außerhalb dieser Striche. Was aus ihnen wird ? In dem Moment, da der Roman endet, hören sie alle auf zu existieren.«
»Nein«, widersprach ich. Ich stemmte mich vom Sofa hoch. »Nein, ich verstehe, aber es ist unmöglich, sich keine Zukunft für sie vorzustellen. Sie sind der Mensch, der am besten qualifiziert ist, sich diese Zukunft vorzustellen. Irgendetwas passiert mit Annas Mutter. Entweder sie heiratet oder nicht. Entweder sie zieht mit dem Tulpenholländer nach Holland oder nicht. Entweder sie hat noch mehr Kinder oder nicht. Ich muss wissen, was aus ihr wird.«
Van Houten schürzte die Lippen. »Ich bedaure, dass ich dir bei deinen kindischen Wünschen nicht helfen kann, aber ich weigere mich, dich auf die Art zu bemitleiden, die du gewohnt bist.«
»Ich will Ihr Mitleid nicht«, sagte ich.
»Wie alle kranken Kinder«, antwortete er ungerührt, »behauptest du zwar, dass du kein Mitleid willst, dabei hängt deine ganze Existenz davon ab.«
»Peter«, mischte sich Lidewij ein, doch er redete
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